Der ehemalige EU-Kommissar Michel Barnier soll für die Brüsseler Behörde mit der Regierung in London die Bedingungen eines Ausscheidens Großbritanniens aus der Europäischen Union aushandeln. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ernannte den Franzosen am Mittwoch zu seinem Chefunterhändler. "Ich wollte einen erfahrenen Politiker für diese schwierige Aufgabe", begründete Juncker seine Entscheidung.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Der 65-Jährige soll die Arbeit am 1. Oktober aufnehmen. Barnier war als EU-Binnenmarktkommissar von 2010 bis 2014 für die Bankenregulierung zuständig. Der zu den französischen Konservativen gehörende Barnier war maßgeblich an der Regulierung der Finanzmärkte in der EU nach der Finanzkrise 2008 beteiligt. In Frankreich war er zuvor unter anderem Außen- und Agrarminister, danach Abgeordneter im Europaparlament.
Barnier erklärte auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, er fühle sich geehrt, mit der „anspruchsvollen Aufgabe“ betraut worden zu sein.
Nach Angaben der EU-Kommission soll er die Austrittsgespräche mit Großbritannien zunächst intern vorbereiten. Erst wenn die britische Regierung ihr Austrittsgesuch nach Artikel 50 der EU-Verträge übermittelt habe, werde er die Verhandlungen mit der Regierung in London aufnehmen. Die neue britische Regierung hat angekündigt, nicht vor Ende des Jahres den Antrag zu stellen. Bei den Gesprächen dürfte der Finanzplatz London und dessen Zugang zum EU-Markt eine wichtige Rolle spielen.
Beim Referendum am 23. Juni stimmte die Mehrheit der britischen Wähler für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union. Formelle Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien über den Austritt und die künftigen Beziehungen laufen aber noch nicht.
Die EU wartet darauf, dass die britische Regierung ihren Austrittswunsch im Einklang mit Artikel 50 des EU-Vertrags offiziell anmeldet. Nach Vorstellung von Premierministerin Theresa May wird das nicht vor Jahresende geschehen. Der Zeitraum für Verhandlungen ist danach auf zwei Jahre befristet. Bis dies geschieht soll Barnier laut EU-Kommission „den Boden intern für die künftige Arbeit bereiten“.