Es ist keine Kunst, dieser Tage über den Zustand Europas zu klagen. Prasserei und Verantwortungslosigkeit haben erst zur Schuldenkrise und anschließend zu einer politischen Krise geführt. Die Europäische Union hat sich – so nachvollziehbar der Schritt ist – derart schnell und weit ausgebreitet, dass sich Millionen Bürger fragen, welche Identität dieses neue Europa hat.
Hinzu kommt: Außenpolitisch agiert das Staatenbündnis langsam, oft unkoordiniert – und nie einheitlich. Was gedenkt Europa gegen die Flüchtlingsströme aus Afrika zu tun? Wie will Europa die Terrororganisation IS stoppen? Wie soll mit der Türkei umgegangen werden, die sich zuletzt eher von Europa entfernt, denn angenähert hat? Diese Fragen können selbst die nationalen Außenminister (oft) nicht beantworten.
So muss man Horst Köhler für die Ausrichtung seiner Rede, die er am Mittwoch nachmittag bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung auf dem Petersberg in Bonn hielt, eine Kritik an Europa und dem Westen insgesamt, nicht über den grünen Klee loben. Für die Details und Zwischentöne seiner Rede gilt aber das Prädikat: höchst bemerkenswert.
Mit Europa steht es nicht zum Besten
Der 71-Jährige, von 2004 bis 2010 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, zeigte deutlich auf, wieso der Westen derzeit nur bedingt handlungsfähig und längst kein Aushängeschild in der Welt mehr ist. Er kritisierte die Bundesregierung, die Euro-Schuldenstaaten, vor allem: all jene, die an dem Bündnis mit den USA zweifeln.
Der Reihe nach: Köhler stellte Europa ein durchwachsenes Zeugnis aus – für den Status quo wie auch für die vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Europas „historische Leistungsbilanz ist durchwachsen“, machte Köhler deutlich. „Seine Glaubwürdigkeit erschüttert, und selbst um seine materielle Stärke steht es derzeit nicht zum Besten – die Europäische Union steckt seit Jahren in einer Schulden- und Wachstumskrise (...).“ Köhler betont, er sei überrascht, wie blind die Staats- und Regierungschefs, aber auch die Bevölkerung, dafür geworden seien, wie das Bild der Anderen von uns ist. So lange in Europa Zwist, Armut und Massenarbeitslosigkeit herrschten, könne kein starkes Zeichen von der alten Welt ausgehen.
Apropos Außendarstellung: Köhler kritisiert, dass von einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik „bisher leider wenig zu sehen gewesen ist“. Dass Europa weiterhin nicht mit einer Stimme spreche, habe auch zu einer Schwächung des transatlantischen Bündnisses geführt – und zu Ungeduld und Erbitterung bei den „amerikanischen Freunden“.
Die wichtigsten Sätze der Köhler-Rede
"Er ist seinen Idealen zu oft zu wenig treu gewesen, und das nicht nur früher einmal, sondern bis in die jüngste Zeit hinein, als dass er im Rat der Nationen das große Wort führen und Anspruch auf die größte Portionen erheben dürfte."
"Es gehört sich für den Westen, nicht nachzulassen in den immerwährenden Bemühen, seine helle, seine leuchtende Seite zu verwirklichen. Es gehört sich für ihn, seinem Ideal von Freiheit, Recht, Verantwortung und Solidarität so nahe wie nur irgend möglich zu kommen, es mit Vitalität zu erfüllen und ihm friedliche Strahlkraft zu verleihen über alle geographischen Grenzen hinaus."
"Da scheint es manchmal, als würde eine sicher geglaubte, wenn auch imperfekte Weltordnung vor unseren Augen zerbröseln: Weltunordnung... Der Westen muss sich für einen solchen Rücksturz wappnen, und er muss nach Kräften versuchen, ihn zu verhindern."
"Solange Finanzinstitutionen 'too big to fail' bleiben, solange nicht ein echter, wahrhaftiger Kulturwandel in der Finanzindustrie einsetzt, so lange bleibt Freiheit hier verantwortungslos und bleiben die Steuerzahler in Geiselhaft. Solange die Staatsverschuldung weit jenseits aller vernünftigen Stabilitätskriterien verharrt, so lange bleiben die wirtschaftlichen Wachstumskräfte gedämpft und der Einfluss der Finanzmärkte ungesund groß."
"Die Linie der Bundesregierung, Hilfen an Krisenstaaten mit der Erwartung nachhaltiger Strukturreformen zu verbinden, halte ich für richtig (die jüngsten Rentenreformen in Deutschland waren in diesem Zusammenhang aber ganauso eindeutig ein falsches Signal)."
"Wir sollte uns daher bemühen, das Wort von der transatlantischen Partnerschaft mit neuer Substanz, mit Haltung, mit Wert zu erfüllen, denn wie gesagt: Worte können ihre Bedeutung verlieren, wenn sie gedankenlos verwendet werden, und sie können einem sogar abhanden kommen."
"Und wir brauchen dringend eine Stärkung der Vereinten Nationen mit der Reform des Sicherheitsrates als wichtigster Aufgabe. Dabei denke ich übrigens nicht an einen Sitz für Deutschland, sondern eine gemeinsame Vertretung Europas..."
Europäer wollen den USA nicht helfen
Der ehemalige Bundespräsident, der nach der Jahrtausendwende fünf Jahre als geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington arbeitete, tritt bei der Rede in Bonn auch als Anwalt der Vereinigten Staaten von Amerika auf. Oft würden die USA in Deutschland zu Unrecht kritisiert; die US-Amerikaner stünden entgegen der Vorurteile nicht für Alleingänge. Im Gegenteil. Seit einer Rede von Ex-Präsident John F. Kennedy 1962 hätten die USA Unterstützung gesucht, um „weltweit den Kräften der Zerstörung Paroli zu bieten“. Einzig: Die Europäer wollten nicht helfen, so Köhler.
Er plädiert dafür, den USA auf Augenhöhe zu begegnen. Nie von oben herab, aber durchaus kritisch. Längst sei nicht alles richtig, was die US-Amerikaner machen; Köhler nannte als Stichworte die NSA-Affäre, den Folterskandal von Abu Ghraib und den Irak-Krieg von 2003. Dies aber wüssten die Freunde jenseits des Atlantiks auch selbst. Viele seien gegen die Todesstrafe und den privaten Waffenbesitz. Und auch der außenpolitische Kurs sei nicht unumstritten. „Auch in den USA gibt es Falken und Tauben.“
Gleichzeitig erinnerte Köhler daran, dass etwa auch Teile der CDU/CSU für den umstrittenen Irak-Krieg waren; Grund zum Triumphalismus vonseiten Europas sei falsch. Köhler war in seinem Element, der Transatlantiker versuchte Brücken zu bauen und rief in den komplett gefüllten Veranstaltungssaal auf dem Petersberg: „Halten wir uns nicht damit auf, was angeblich ganz Europa von den gesamten USA unterscheidet oder gar trennt. Sprechen wir lieber über all das, was uns unbestreitbar miteinander verbindet. Wir gehören zur selben Familie von Völkern mit gemeinsamen geschichtlichen Wurzeln und ähnlichen (...) Wertvorstellungen.“