Eines muss man Mario Draghi lassen: Der Mann schafft es immer wieder, die Märkte zu überraschen. Dass Europas oberster Währungshüter ein derart buntes Feuerwerk an geldpolitischen Raketen abfeuern würde, hatte an den Börsen niemand auf der Rechnung. Draghi senkte nicht nur die Leitzinsen der EZB, der Zins für Einlagen der Banken bei der EZB liegt nun bei minus 0,4 Prozent. Er stockte auch das Kaufvolumen an Anleihen, die die EZB monatlich erwirbt, von 60 auf 80 Milliarden Euro auf. Dabei will die EZB demnächst auch Unternehmensanleihen kaufen. Doch damit nicht genug. Sie bietet den Banken ab Juni auch Geldleihgeschäfte mit vierjähriger Laufzeit an, mit denen die Finanzinstitute bis zu 30 Prozent ihrer Kredite refinanzieren können. Je mehr Kredite sie mit dem geliehenen Geld vergeben, desto stärker sinkt der Zins, den sie selbst zahlen müssen (bis zu minus 0,4 Prozent).
Mit diesen Maßnahmen will Draghi die Inflation von derzeit minus 0,2 Prozent wieder auf den Zielwert der EZB von knapp unter zwei Prozent hieven, die Wirtschaft stabilisieren und eine angeblich gefährliche Deflation verhindern.
Doch die Argumente, die Europas oberster Notenbanker ins Feld führt, sind hanebüchen. Zwar liegt die Inflation derzeit knapp unter der Marke von null Prozent. Doch das ist in erster Linie den gesunkenen Energiepreisen zu verdanken. Diese lassen den Bürgern mehr Geld im Portemonnaie und regen den Konsum an. Dazu kommt, dass die Überkapazitäten auf den Arbeitsmärkten vor allem in den südeuropäischen Ländern den Lohn- und damit auch den Preisauftrieb bremsen. Eine echte Deflation, die durch das Schrumpfen der Geldmenge definiert ist, ist weit und breit nicht in Sicht. Die breit gefasste Geldmenge M3 (Bargeld, Sicht-, Termin- und Spareinlagen sowie Geldmarktfonds) wächst derzeit mit Raten von rund fünf Prozent, die Geldmenge M1 (Bargeld und Sichteinlagen) expandiert um mehr als zehn Prozent.
Das Gefasel der EZB von angeblichen Deflationsgefahren und das Festhalten an ihrer höchst eigenwilligen Interpretation, dass Preisstabilität erst bei einer Inflationsrate von knapp unter zwei Prozent erreicht ist, dienen dazu, die wahre Stoßrichtung der hyperexpansiven Geldpolitik zu verschleiern. Diese besteht darin, die Staatshaushalte vor allem in den Südländern der Eurozone zu entschulden. Da die Regierungen den Sparkurs über Bord geworfen und den Schuldenschnitt zum politischen Tabu erklärt haben, bleiben nur drei Wege, einen Schuldenkollaps zu verhindern: Mehr Wachstum, höhere Inflation und/oder niedrigere Zinsen. Wegen der Überkapazitäten und der zunehmend wirtschaftsfeindlichen Rahmenbedingungen in Europa kommen die Investitionen und das Wachstum nicht in Gang. Inflation zeigt sich derzeit nur bei den Vermögenspreisen. Daher setzt die EZB alles daran, die Zinsen über das gesamte Laufzeitspektrum bis in den Minusbereich nach unten zu drücken.
Der Instrumentenkasten der EZB
Wieder einmal blicken alle in der Euro-Schuldenkrise gebannt nach Frankfurt: die Europäische Zentralbank (EZB) soll es im schlimmsten Fall richten, mit ihrem Waffenarsenal intervenieren und so die Märkte beruhigen.
Zwar streiten sich Fachleute und auch die Notenbanker darüber, wie effektiv, nachhaltig und sinnvoll weitere Eingriffe der Geldpolitik sein könnten. Fest steht aber: die EZB verfügt als einzige Institution über einen gut gefüllten und theoretisch sofort verfügbaren Instrumentenkasten, um angeschlagenen Banken unter die Arme zu greifen, Institute im Falle eines Bank-Runs mit neuem Geld zu schützen und durch ihre Finanz-Feuerkraft wenigsten für eine begrenzte Zeit wieder für Ruhe an den Börsen zu sorgen.
Vor dem Wahlsonntag in Athen verdichten sich die Hinweise, dass die großen Notenbanken der Welt gemeinsame Sache machen und die Märkte mit Geld fluten könnten. Eine solche konzertierte Aktion der Zentralbanken gab es schon einmal - Anfang Oktober 2008, kurz nach dem Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers, als weltweit die Finanzströme zu versiegen drohten.
In der aktuellen Krise rund um die Überschuldung Griechenlands und anderer südeuropäischer Länder hat bislang nur die britische Notenbank angekündigt, dass sie gemeinsam mit dem Finanzminister in London ihren Bankensektor zum Schutz vor aus Griechenland überschwappenden Problemen mit 100 Milliarden Pfund fluten will. Am Freitag sorgte die Aussicht auf eine gemeinsame Intervention der Zentralbanken zunächst für bessere Stimmung an den Märkten.
Aktuell steht der Leitzins der EZB bei 0,75 Prozent. Die Notenbank kann natürlich jederzeit an dieser in normalen Zeiten wichtigsten Stellschraube drehen. Es wäre ein historischer Schritt: Noch nie seit Bestehen der Währungsunion lag der Schlüsselzins für die Versorgung des Finanzsystems mit frischer Liquidität niedriger.
Allerdings nimmt der Spielraum der EZB mit jeder weiteren Leitzinssenkung ab - schließlich rückt damit die Nulllinie unausweichlich immer näher. Fachleute erwarten, dass die Zentralbank mit weiteren Zinssenkungen so lange wartet wie nur möglich, um für den Fall echter Verwerfungen an den Finanzmärkten, wie sie etwa bei einem Austritt der Griechen aus der Euro-Zone drohen würden, noch Munition zu haben.
Um den Geldmarkt wiederzubeleben und die Banken zu ermuntern mehr Geld in den Wirtschaftskreislauf zu geben, könnte die EZB den sogenannten Einlagezinssatz auf null Prozent kappen. Dieser Zins liegt aktuell bei 0,25 Prozent. Das bedeutet, dass Banken, die keiner anderen Bank mehr trauen, immerhin noch Geld dafür bekommen, wenn sie überschüssige Liquidität bei der EZB parken. Bei einem Einlagezinssatz von einem Prozent entfiele der Anreiz dies zu tun. Doch ob die Banken der EZB den Gefallen tun oder das Geld dann lieber horten, ist fraglich. Aktuell parken sie jedenfalls knapp 800 Milliarden Euro in Frankfurt.
Im Dezember und im Februar ist es der EZB gelungen, mit zwei jeweils drei Jahre laufenden Refinanzierungsgeschäften die Gemüter der Banker wenigstens für eine Zeit lang zu beruhigen. Damals sicherten sich die Geldhäuser insgesamt rund eine Billion Euro bei der Zentralbank zum Billigtarif von nur einem Prozent.
Einige Experten glauben, dass weitere langlaufende Geschäfte dieser Art das durch die Unsicherheit über die Zukunft der Euro-Zone untergrabene Vertrauen wieder zurückbringen könnten. Die Banken, die sich um den Jahreswechsel bei der EZB bedient haben, sind allerdings ohnehin bis mindestens Ende 2014 abgesichert. Außerdem kann jede Bank darüber hinaus bei den wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäften der Notenbank aus dem Vollen schöpfen.
Damit den Banken die Sicherheiten nicht ausgehen, die diese als Pfand bei den Refinanzierungsgeschäften mit der Notenbank stellen müssen, kann die EZB weitere Erleichterungen bei den Anforderungen beschließen. Sie kann dabei auch selektiv nach Ländern vorgehen, um gezielter zu helfen. Allerdings sind Erleichterungen bei den Sicherheiten immer auch ein Politikum, weil dadurch die Risiken steigen, die die Zentralbank durch die Refinanzierung in ihrer Bilanz ansammelt. Im Fall der Fälle müssten diese von den Steuerzahlern der Mitgliedsländer getragen werden.
Die EZB hat seit Mai 2010 Staatsanleihen hoch verschuldeter Euro-Länder für mehr als 200 Milliarden Euro gekauft. Das im Fachjargon SMP (Securities Markets Programme) genannte Programm ist wegen seiner möglichen Nebenwirkungen in Deutschland und einigen anderen nord- und mitteleuropäischen Ländern umstritten. Es ruht derzeit, kann allerdings jederzeit wieder vom EZB-Rat in Kraft gesetzt werden.
Ob es allerdings noch seine erhofften positiven Wirkungen am Bondmarkt entfalten kann, ist unklar. Wegen der Erfahrungen bei der Umschuldung Griechenlands im Frühjahr dürften wenige private Investoren wie Banken oder Versicherungen der EZB folgen und wieder in den Markt gehen, weil sie fürchten, dass die Zentralbank erneut einen Sonderstatus als Gläubiger durchsetzen könnte, wie sie es im Fall Griechenland getan hat.
Theoretisch kann die EZB neben Staatsanleihen auch andere Arten von Wertpapieren kaufen und auf diese Weise Geld schaffen: zum Beispiel Bankschuldverschreibungen, Aktien und Unternehmensanleihen. Während der Ankauf von Bank Bonds eine durchaus denkbare Möglichkeit wäre, Liquidität bei den Banken zu schaffen, scheinen andere Wege wenig erfolgversprechend. So könnte die EZB wohl schlecht erklären, warum sie etwa Aktien von Banken kauft, nicht aber von Auto- oder Chemiekonzernen. Oder sie setzt sich dem Verdacht aus, der einen Bank mehr Aktien abzukaufen als anderen oder zum Beispiel spanische Institute deutschen oder österreichischen Banken vorzuziehen.
Theoretisch kann die EZB auch ihre Anforderungen an die Mindestreserve der Banken, die diese bei ihr halten müssen, absenken. Sie hat dies um den Jahreswechsel bereits getan und den Satz ihrer gesamten Einlagen, den jede Geschäftsbank bei ihr parken muss, von zwei auf ein Prozent halbiert. Dadurch hatte sie damals eine Summe von rund 100 Milliarden Euro für die Banken freigemacht. Ein solcher Schritt würde es für Banken in Südeuropa, die wohl am ehesten unter einer Kapitalflucht leiden würden, leichter machen, Mittel flüssig zu halten.
Die Folgen dieser Politik sind desaströs. Denn der Zins ist der wichtigste Steuerungsmechanismus in der Marktwirtschaft. Er ist das Scharnier zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Konsum und Kapitalbildung. Wird er künstlich nach unten gedrückt, gerät die Kalkulationsgrundlage von Konsumenten und Investoren ins Wanken. Bonsai-Zinsen lassen fragwürdige Investitionsprojekte rentabel erscheinen und lenken Ressourcen in ineffiziente Verwendungen. Die Qualität des Kapitalstocks sinkt – und mit ihr Produktivität und Wachstum.
Zudem treiben die niedrigen Zinsen die Anleger in immer risikoreichere und spekulativere Vermögensklassen. In Deutschland verzeichnen die Immobilienpreise bereits mehrjährige Höchststände, dasselbe gilt für Betriebsvermögen, Anleihekurse und Sammlergegenstände wie Gemälde und Oldtimer. Platzen diese Blasen, droht die Wirtschaft in die nächste Krise zu stürzen.
Auf der Verliererseite der Frankfurter Geldschwemme stehen die Banken und die Sparer. Der schrumpfende Abstand zwischen kurz- und langfristigen Zinsen lässt die Gewinne der Banken aus der Fristentransformation erodieren. Das schmälert ihre Fähigkeit, Eigenkapital aus eigener Kraft zu bilden. So bleiben die Banken labil und anfällig für neue Schocks. Die Sparer werden durch das Verschwinden des Zinses um die Erträge des Konsumverzichts gebracht. Die Sparbereitschaft sinkt, im Alter droht die Armut. Bedanken können sich die Sparer dann bei der EZB.
Das sind die drei Leitzinssätze der EZB
Der wichtigste Leitzins ist der Hauptrefinanzierungssatz. Er legt den Mindestzins fest, den Geschäftsbanken der EZB für einen Kredit mit einwöchiger Laufzeit im Rahmen der sogenannten Tenderauktionen bieten müssen. Änderungen wirken sich in der Regel direkt auf die Zinsen am Geld- und am Kapitalmarkt aus.
Für Banken, die sehr kurzfristig Geld brauchen, wird es teurer, hier bietet die EZB die sogenannte Spitzenrefinanzierungsfazilität an. Diese Kredite haben eine Laufzeit von einem Tag. Der Zins, den Banken für das über Nacht geliehene Geld zu zahlen haben, ist der Spitzenrefinanzierungssatz. Er liegt in der Regel rund einen Prozentpunkt über dem Hauptrefinanzierungssatz.
Die Einlagefazilität ist das Gegenstück zur Spitzenrefinanzierungsfazilität. Sie gibt Banken die Möglichkeit, einen Überschuss an flüssigen Mitteln bis zum nächsten Geschäftstag bei der Zentralbank zu parken. Die Verzinsung gibt der Einlagefazilitätssatz an. Spitzen- und Einlagefazilität sind Instrumente, mit denen die EZB weitere Feinsteuerung verwirklichen kann. Wenn die Banken zum Beispiel nur sehr wenig oder gar keinen Zins auf das Geld bekommen, das sie bei der EZB parken, dann steigt der Anreiz, es an einen Kunden zu verleihen. Derzeit ist der Einlagezins negativ - und bestraft somit Banken, die Geld bei der EZB parken.
Klare Profiteure der Frankfurter Geldschwemme sind hingegen die Finanzminister der Eurozone. Sie werden sich die Hände reiben, kommen sie jetzt doch noch billiger an Kredite als bisher. Negative Zinsen belohnen sie sogar für das Schuldenmachen. Kein Wunder, dass in den Südländern kein Mensch mehr ans Sparen und ans Reformieren denkt. So geht die Politik der EZB am Ende nach hinten los. Statt wie erhofft dem Minuszins nach unten zu folgen, schießen die Schuldenquoten der Staaten nach oben. Das setzt die Eurohüter unter Druck, die Zinsen weiter zu senken. Die jüngsten geldpolitischen Lockerungen dürften daher noch längst nicht das Ende der Fahnenstange markieren.
Ewig aber lässt sich die Spirale aus niedrigen Zinsen und steigenden Schulden nicht fortsetzen. Früher oder später wird die Geldflut der EZB die Verbraucherpreise auf breiter Front nach oben treiben. Dann aber ist nicht nur das Vertrauen der Menschen in die Währungshüter, sondern in das gesamte Geldsystem hinüber. Europa geht rauen Zeiten entgegen.