Die Flüchtlinge in Griechenland sind sauer. Der Pakt zwischen Europäischer Union und Türkei sei „rassistisch“, die Rückführungen in die Türkei nicht weniger als eine „Deportation“. Am Mittwochabend waren in Athen einige tausend Flüchtlinge zusammengekommen, um ihrem Unmut lautstark Luft zu machen.
Vor zwei Wochen hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs beschlossen, dass jeder Flüchtling, der ab dem 20. März in Griechenland ankommt, in die Türkei zurückgebracht wird. Nur wer glaubhaft versichern kann, dass er in der Türkei nicht sicher ist, darf dann bleiben. Die EU erhofft sich eine abschreckende Wirkung, damit sich weniger Flüchtlinge auf den Weg über die Ägäis nach Europa machen.
Die Rückführungen sollen ab kommenden Montag beginnen. Bislang hieß es stets, Griechenland müsse die Türkei zunächst als sicheren Drittstaat anerkennen. Nun soll es auch ohne offizielle Anerkennung funktionieren. Europäische Rechtsexperten suchen nach einer Lösung, die der Genfer Konvention gerecht wird und die individuelle Asylprüfung nicht aushebelt. Menschenrechtsorganisationen werfen der EU vor, das europäische Asylrecht de facto abzuschaffen.
Gerald Knaus von der „Europäischen Stabilitätsinitiative“ ist von dem Chaos nicht überrascht. Denn die Europäische Kommission hatte seiner Einschätzung nach „nichts vorbereitet“. Wenn der Türkei-Deal aber scheitert, werden die Visegrád-Staaten, darunter Ungarn, Polen und die Slowakei, den Balkan weiter befestigen, ist Knaus überzeugt.
Finanzbeamter betreut Umsetzung der Asylverfahren
Dann würden zigtausende Menschen in Griechenland stranden. In einem ohnehin geschwächten EU-Land drohte dann eine humanitäre Krise. „Das kann nicht die Alternative sein“, sagt Knaus.
Der EU-Experte schlägt vor, die Asylverfahren und Rückführungen in die Türkei zu einem gemeinsamen europäischen Projekt zu machen. „Wir brauchen einen politischen Koordinator der EU, der für das Abkommen mit Athen und Ankara vor Ort zuständig ist und die Unterstützung aus Mitgliedsstaaten einfordern kann.“
Dieser Koordinator müsse jederzeit mit den Ministerpräsidenten von Griechenland und der Türkei reden können. „Es muss jemand mit großer internationaler Erfahrung sein, beispielsweise der frühere schwedische Premierminister Carl Bildt.“
Im Moment betreut von europäischer Seite ein niederländischer Finanzbeamter die Umsetzung der Asylverfahren in Athen, der eigentlich Griechenlands Euro-Reformen überwachen soll. „Das kann nicht lange gut gehen“, warnt Knaus.
Wie viele Syrer nimmt Deutschland freiwillig auf?
Die EU – insbesondere Griechenland – und die Türkei müssen bis zum kommenden Montag eine Reihe rechtlicher und politischer Probleme lösen, damit der Türkei-Deal umgesetzt werden kann. Aber selbst wenn die Rückführungen funktionieren: das nächste Problem wartet. Und das ist vor allem für Angela Merkel heikel.
In der Übereinkunft mit der Türkei haben sich die Europäer verpflichtet, bis zu 72.000 Syrer aufzunehmen. Für jeden Flüchtling, der zurück in die Türkei gebracht wird, holen die Europäer einen Syrer, der aktuell in einem türkischen Flüchtlingscamp lebt, zu sich in die EU. Weiter heißt es, dass die EU-Staaten freiwillig Flüchtlinge aufnehmen können, sogenannte Kontingente.
Was Flüchtlinge dürfen
Wer eine sogenannte Aufenthaltsgestattung bekommt, darf nach drei Monaten in Deutschland eine betriebliche Ausbildung beginnen. Wer geduldet ist, kann vom ersten Tag an eine Ausbildung machen. In beiden Fällen ist jedoch eine Erlaubnis durch die Ausländerbehörde nötig.
Gleiches gilt für Praktika oder den Bundesfreiwilligendienst beziehungsweise ein freiwilliges, soziales Jahr: Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach drei Monaten ohne Zustimmung der ZAV damit beginnen, wer den Status „geduldet“ hat, darf das ab dem ersten Tag.
Wer studiert hat und eine Aufenthaltsgestattung besitzt, darf ohne Zustimmung der ZAV nach drei Monaten eine dem Abschluss entsprechende Beschäftigung aufnehmen, wenn sie einen anerkannten oder vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss besitzen und mindestens 47.600 Euro brutto im Jahr verdienen werden oder einen deutschen Hochschulabschluss besitzen (unabhängig vom Einkommen).
Personen mit Duldung können dasselbe bereits ab dem ersten Tag des Aufenthalts.
Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach vierjährigem Aufenthalt jede Beschäftigung ohne Zustimmung der ZAV aufnehmen.
Schon vor einem halben Jahr wurde im politischen Berlin darüber diskutiert. Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte im September, dass „wir mit einer Größenordnung von einer halben Million für einige Jahre sicherlich klarkämen. Ich habe da keine Zweifel - vielleicht auch mehr.“
Danach machten Kommunen, Bürgermeister und Ministerpräsidenten Druck: Deutschland sei überfordert mit der hohen Zahl der Flüchtlinge. Über eine Obergrenze wollte die Bundesregierung nicht diskutieren. Schließlich könne man ja nicht festlegen, wie viele Menschen kommen oder nicht.
EU sollte sofort Kontingente festlegen
Genau das kann Angela Merkel nun aber. Sie kann festlegen, wie viele Flüchtlinge Deutschland in diesem Jahr aufnimmt. Über die österreichisch-bayrische Grenze kommen maximal noch einige hundert pro Tag. Merkel und ihre Regierung könnten also beschließen, dass Deutschland in diesem Jahr aus humanitären Gründen weitere 100.000, 200.000 oder auch 500.000 Syrer aufnimmt. Genau das erwartet die Türkei von Deutschland und der EU.
Gerald Knaus empfiehlt der EU daher, sofort Kontingente festzulegen. „Merkel muss der Türkei sagen, wie viele Syrer Deutschland in den nächsten Monaten aufnehmen wird.“ Nur dann könnten wir in der Flüchtlingskrise eine Situation erreichen, die für alle Seiten kontrollierbar ist und eine gewisse Entspannung bringt.
Von Angela Merkel ist seit Wochen zu diesem Thema öffentlich kaum etwas zu hören. Politisch wäre es klüger, eine öffentliche Debatte über Kontingente mit einer Zahl x zu führen, statt sie irgendwann einfach zu verkünden. Dann hätte sie im Zweifel eine Mehrheit der Bevölkerung hinter statt gegen sich.