Flüchtlingschaos in Idomeni Griechenland hofft auf die EU – und die Türkei

Notstand in Griechenland: Täglich setzen 2000 Bootsflüchtlinge von der Türkei in die EU über. Das Land ächzt unter dem Stau, der sich vor der mazedonischen Grenze bildet. Hilfe kommt nun ausgerechnet von der Türkei.

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Ausnahmezustand in Idomeni. Quelle: AP

Brüssel/Athen Kälte, Hunger, Ungewissheit: Mehr als 10.000 Menschen stecken derzeit in der griechischen Grenzstadt Idomeni fest. Sie leben in Zelten, im Schlamm, von Helfern notdürftig mit Decken versorgt. Die meisten von ihnen hoffen darauf, dass das Nachbarland Mazedonien bald seine Grenze öffnet – wenn auch nur für kurze Zeit. Denn ihr Ziel liegt nicht in oder Mazedonien, sondern in Nord- und Westeuropa. Bis man sie dorthin weiterziehen lässt, harren sie aus – zumeist unter katastrophalen Bedingungen.

Der zuständige Gouverneur von Zentralmazedonien, einer Region in Griechenland, erklärte gegenüber dem Nachrichtensender Skai am Samstagmorgen schon, er wolle den Notstand ausrufen. Seine begründete Befürchtung: Der Nachschub könnte nicht abreißen.

Täglich landen neue Boote an den griechischen Inseln, im Schnitt mit 2000 Neuankömmlingen pro Tag. Der für die Migration zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos rechnet damit, dass bis Ende März mehr als 100.000 Migranten in Griechenland hängen bleiben könnten. Denn dass sich Europas Grenzen bald wieder öffnen, ist derzeit nicht abzusehen.

Avramopoulos kritisierte die Entscheidung einiger Staaten, im Alleingang ihre Grenzen zu schließen und damit die Balkanroute Richtung Mitteleuropa dicht zu machen. Dies fördere Fremdenfeindlichkeit und Populismus. „Wenn die Grenzen schließen, schließen meistens auch die Hirne“, sagte er am Samstag in Athen.

Unterdessen wird die griechische Regierung an der Grenze zu Mazedonien aktiv, wo Tausende in einem improvisierten Zeltlager ausharren. Wie der griechische Krisenstab am Samstag mitteilte, werden ab sofort Ärzte und Sanitäter im Lager von Idomeni eingesetzt. Die mehrheitlich in kleinen Kuppelzelten lebenden Migranten müssen nach starken Regenfällen im Schlamm ausharren. Doch die Menschen in Idomeni bilden nur die Spitze des Eisbergs: Nach Angaben von griechischen Behörden befinden sich schon jetzt rund 33.000 Migranten im Land.

Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR kommt jeder zweite von ihnen aus Syrien. Aus Afghanistan seien es 26 Prozent, aus dem Irak 17 Prozent, erklärte Vincent Cochetel, Europa-Direktor des UNHCR, am Freitag in Brüssel.

„48 Prozent der ankommenden Menschen sind Syrer. Sie geben sich nicht als Syrer aus, sie sind Syrer“, sagte er. Seiner Meinung nach sollte Griechenland grundsätzlich in der Lage sein, die aktuell ankommenden Flüchtlinge zu beherbergen: „30.000 Menschen sollten in einem EU-Staat unter normalen Umständen kein Notfall sein“ – auch, wenn die griechische Verwaltung wegen Budgetkürzungen derzeit in ihren Handlungen beschränkt sei.

Reaktionen zu möglichen Grenzschließungen

Um den Zustrom zu begrenzen, hofft Athen – wie wohl die gesamte EU – auf ein Zustandekommen des Abkommens mit der Türkei. Offenbar mit guten Aussichten: Schon vor dem Gipfel mit der Türkei am Montag zeichnete sich am Samstag ab, dass Ankara Migranten ohne Asylanspruch wieder zurücknimmt – und damit die Europäer entlastet. Laut EU-Ratschef Donald Tusk geht es bei der Zusage um Flüchtlinge, die auf dem Seeweg nach Griechenland noch in türkischen Hoheitsgewässern aufgegriffen werden.

Bundeskanzlerin Merkel (CDU) warf der griechischen Regierung derweil Versäumnisse in der Flüchtlingskrise vor. Eigentlich habe Griechenland zugesagt, bis Ende 2015 rund 50.000 Unterbringungsplätze zu schaffen, sagte sie der „Bild am Sonntag“. „Der Rückstand muss jetzt in Windeseile aufgeholt werden, denn die griechische Regierung muss für menschenwürdige Unterkunft sorgen.“ Sie betonte, dass dafür Unterstützung der EU-Partner nötig sei. Die verschärfte Notlage der gestrandeten Migranten in Griechenland lastete Merkel auch Österreich und den Balkanländern an. Die Staaten hatten verabredet, die Balkanroute weitgehend abzuschotten.

In dem wilden Flüchtlingscamp bei Idomeni informierten Vertreter von Hilfsorganisationen die verzweifelten Migranten, dass sie auch in besser organisierten Aufnahmelagern südlich der Grenze – wie etwa dem 15 Kilometer entfernten Nea Kavala – Unterschlupf finden könnten. Die meisten weigerten sich aber umzuziehen. Sie hoffen weiterhin, dass Mazedonien doch noch den Grenzzaun öffnet.

Pro Asyl warnte, Griechenland könne den Menschen vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak weder ein faires Asylverfahren garantieren noch sie versorgen. „Hilfsbedürftige dürfen nicht kaltlächelnd zum Zweck der Abschreckung weiterer missbraucht werden“, sagte Geschäftsführer Günter Burkhardt.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz forderte Nothilfe für Griechenland. „Wenn wir 30.000 von den Flüchtlingen, die sich jetzt in Griechenland stauen, verteilen würden, wäre das eine enorme Entlastung für das Land“, sagte er dem „Tagesspiegel am Sonntag“.

In der Flüchtlingskrise sollte Deutschland nach seiner Meinung zudem gemeinsam mit Frankreich und Portugal eine „Koalition der Willigen“ unter den 28 EU-Staaten schmieden. Das Dreierbündnis könnte bei der seit Monaten stockenden Verteilung von 160.000 Migranten aus Griechenland und Italien freiwillig allein die Hälfte der Asylsuchenden aufnehmen. „Die restlichen 80.000 unter den übrigen Mitgliedstaaten zu verteilen, sollte kein Problem darstellen“, sagte Schulz dem „Tagesspiegel“ (Sonntag).

Griechenlands Regierungschef Alexis Tsipras will darauf bestehen, dass Flüchtlinge auf alle EU-Staaten verteilt werden. EU-Mitgliedsstaaten, die Beschlüsse nicht einhielten, sollen Strafen erhalten.

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