Jean Pisani-Ferry, 65, ist ein schmaler Herr mit eleganter Brille, mit jeder Faser seines Wesens strahlt er Kompetenz und Erfahrung aus. Kein Wunder: Pisani-Ferry war schon Berater von Ministern und EU-Kommissionspräsidenten, er hat eine renommierte Denkfabrik aufgebaut, sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßonkel bekleideten hohe Ämter in der französischen Politik. So ein Mann weiß, dass man mit Zurückhaltung und Höflichkeit politisch meist weiter kommt als mit Lautstärke – selbst wenn man als oberster Wirtschaftsberater gerade Wahlkampf für einen 39 Jahre alten Präsidentschaftskandidaten macht, Emmanuel Macron.
Wirtschaftspolitische Pläne von Emmanuel Macron
Die Unternehmenssteuer soll von derzeit 33 auf 25 Prozent gesenkt werden. Die Steuergutschrift für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (CICE) soll umgewandelt werden in eine dauerhafte Entlastung für Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen.
An der 35-Stunden-Woche soll festgehalten werden. Allerdings könnte sie flexibler geregelt werden, indem Betriebe über die tatsächliche Arbeitszeit mit ihren Beschäftigten verhandeln.
Sie sollen von bestimmten Sozialabgaben befreit werden. Dadurch könnten Niedriglohnempfänger einen zusätzlichen Monatslohn pro Jahr in ihren Taschen haben.
Binnen fünf Jahren sollen 50 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern investiert werden. 15 Milliarden Euro davon sollen in bessere Aus- und Weiterbildung gesteckt werden, um die Einstellungschancen von Jobsuchenden zu verbessern. Ebenfalls 15 Milliarden Euro sind geplant, um erneuerbare Energien zu fördern. Weitere Milliarden sind für die Landwirtschaft, die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, für Infrastruktur und Gesundheitswesen geplant.
60 Milliarden Euro an Einsparungen sind bei den Staatsausgaben vorgesehen, die in Frankreich traditionell hoch sind. Zehn Milliarden Euro soll der erwartete Rückgang der Arbeitslosenquote von derzeit etwa zehn auf sieben Prozent bringen, indem die Ausgaben für Arbeitslosengeld sinken. Durch eine verbesserte Effizienz soll das Gesundheitswesen zehn Milliarden einsparen, weitere 25 Milliarden Euro die Modernisierung des Staatsapparates.
In Gegenden mit niedrigem Einkommen soll die Schülerzahl auf zwölf pro Klasse begrenzt werden. Lehrer sollen als Anreiz für eine Arbeit in solchen Regionen einen Bonus von 3000 Euro pro Jahr bekommen. Mobiltelefone in Schulen sollen für Kinder bis 15 Jahren verboten werden. Alle 18-Jährigen sollen einen Kulturpass im Wert von 500 Euro erhalten, den sie beispielsweise für Kino-, Theater- und Konzertbesuche ausgeben können.
Also blieb Pisani-Ferry auch ganz ruhig, als er vor wenigen Tagen in Paris mit dem französischen Ungleichheitsökonomen Thomas Piketty die Zukunft der EU diskutierte. Piketty drosch kräftig auf Deutschland ein, was beim Publikum gut ankam. Dort sieht man die Schuld für Frankreichs aktuelle Schwäche in der vermeintlichen deutschen Dominanz in Europa. Doch Pisani-Ferry ließ sich kein böses Wort über den starken Nachbarn entlocken. „Pif“, wie ihn viele Franzosen nennen, sagte: „Ich glaube, die Voraussetzung für vernünftige Diskussionen mit Deutschland ist, dass wir unsere eigenen Probleme in Angriff nehmen.“
Es sind solche Sätze, die Pisani-Ferry wie das wirtschaftspolitische Gewissen des jungen Hoffnungsträgers Macron erscheinen lassen – der nicht mehr links oder rechts sein will, sondern modern. Gelingt es Macron wirklich, am 7. Mai in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen Marine Le Pen zu schlagen, muss der Gründer der „En Marche“-Bewegung die ebenso versprochenen wie dringend nötigen Reformen angehen.
Das wäre vor allem die Aufgabe von Pisani-Ferry, der nüchtern bilanziert, Frankreich habe in der Vergangenheit zu selten konstruktive Vorschläge gemacht – und zu häufig die Schuld bei anderen gesucht. „Die französische Wirtschaft hat hausgemachte Probleme“, sagt er – die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit vieler Unternehmen etwa oder den riesigen Staatsapparat, der 57 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschlingt.
Der Politikveteran will das ändern, daher gab er im Januar seinen Posten als Leiter der regierungseigenen Denkfabrik France Stratégie auf, um ins Macron-Lager zu wechseln. „Ich möchte es morgen nicht bedauern, mich auf die Rolle des Beobachters beschränkt zu haben“, sagte er. Es klang etwas bombastisch, als betrachte Pisani-Ferry – angesichts des Aufstiegs von Le Pen – die Macron-Kandidatur als eine nationale Aufgabe.
Dessen Wirtschaftsprogramm liest sich entsprechend ambitioniert. Macron will die Kluft zwischen Stadt- und Landbevölkerung verringern, den schwelenden Klassenkampf zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern beenden. Ach ja, die Herausforderungen der Digitalisierung für Gesellschaft und Wirtschaft möchte er auch noch angehen.
Wackelige Mehrheit
Doch Berater Pisani-Ferry weiß, wie schwer die Aufgabe wird. Vor rund drei Jahren hat er gemeinsam mit dem Berliner Politikberater Henrik Enderlein ein deutsch-französisches Reformpapier für Sigmar Gabriel und Macron erstellt, damals beide noch Wirtschaftsminister. Das rüttelte unter anderem an der 35 Stunden-Woche in Frankreich, es sorgte für Empörung. Prompt distanzierte sich Macron von der Idee.
Auch nun darf Macron den Reformeifer zunächst öffentlich nicht übertreiben, schließlich ist seine Mehrheit denkbar wackelig. Neben den Anhängern von Le Pen, die auf knapp 22 Prozent der Stimmen kam, votierten in der ersten Wahlrunde noch einmal so viele Franzosen für Kandidaten, die sich gegen das „System“ aussprachen. Daher ist unklar, wie viele Anhänger anderer politischer Lager sich hinter dem Kandidaten versammeln, der gegen den Front National steht. Macrons Sieg ist keineswegs garantiert, auch wenn ihn die Umfragen derzeit deutlich vorne sehen.
Und selbst wenn er in den Präsidentenpalast einziehen sollte – dass seine Bewegung sich eine Mehrheit bei der Parlamentswahl im Juni sichert, gilt als unwahrscheinlich. Gut möglich, dass Macron sich mit einem Premierminister aus einer anderen Partei arrangieren müsste.
Der neue Präsident bräuchte dann, daran lässt Pisani-Ferry bei aller Selbstkritik keinen Zweifel, auch Hilfe aus Deutschland. Kurz vor dem ersten Wahlgang hatte Macron den „unerträglichen Handelsbilanzüberschuss Deutschlands“ öffentlich kritisiert und einen Ausgleich gefordert: „Deutschland hat ein Investitionsproblem und ein Problem niedriger Löhne“, sagt Berater Pisani-Ferry. Die Lösung könnte seiner Meinung nach ein EU-Investitionsbudget sein.
Auch zu den Defizitregeln in der Euro-Zone teilen Macron und Pisani-Ferry zwar nicht die verbreitete Argumentation, Frankreichs Probleme würden wie von Zauberhand verschwinden, müsste man sich nur nicht an die vermaledeiten Regeln halten. Doch sie sind auch überzeugt, das Pochen der EU auf strikte Haushaltsdisziplin sei zwischen 2011 und 2014 „zu früh, zu exzessiv“ gewesen.
Das Ende Europas? Was die Frankreichwahl für Brüssel und Berlin heißt
Es steht eine Menge auf dem Spiel. Vizekanzler Sigmar Gabriel wittert eine konkrete Gefahr, EU-Kommissar Pierre Moscovici fürchtet sogar „das Ende Europas, wie wir es kennen“. Die Präsidentschaftswahl in Frankreich, die am Sonntag in die erste Runde geht, lehrt viele in Berlin und Brüssel das Fürchten.
Selbst wenn es die Rechtspopulistin Marine Le Pen am Ende nicht ins höchste Staatsamt schafft, droht eine Zäsur für die Europäische Union und auch für Deutschland. Denn wie Le Pen kommt auch Links-Außen Jean-Luc Mélenchon mit Breitseiten gegen Brüssel auf starke Umfragewerte. Damit treiben sie selbst die europafreundlichen Mitte-Kandidaten Emmanuel Macron und François Fillon vor sich her. Nach dem Brexit-Schock und dem Wahlsieg von Donald Trump in den USA zittert Europa erneut vor dem unberechenbaren Frust der Enttäuschten und Entfremdeten.
Front-National-Chefin Le Pen hat eine klare Ansage gemacht: Als Präsidentin will sie binnen sechs Monaten ein Referendum über das Ausscheiden ihres Landes aus der EU. Den Euro will sie wieder durch eine eigene Währung ersetzen, das Schengen-Abkommen zum freien Reisen kündigen und die französischen Grenzen abschotten. Der Linke Mélenchon will die europäischen Verträge neuverhandeln - und sie andernfalls verlassen. Ein „Frexit“ aber wäre weit dramatischer als der EU-Austritt Großbritanniens. Denn damit bräche ein Gründerstaat weg - das Land, das mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg das Einigungsprojekt maßgeblich vorantrieb. Die zweitgrößte Volkswirtschaft ginge verloren. Die bisherige EU wäre am Ende.
Frankreich hatte zuletzt Probleme mit diversen EU-Vorgaben, die Deutschland klar unterstützt. Wegen der Wirtschaftsflaute sprengte Paris die im Euroraum vereinbarte Defizitgrenze von 3,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Während Brüssel auf Einhaltung der Regeln pocht, kritisieren Le Pen und Mélenchon Gängelei. Zweites heißes Eisen ist die EU-Flüchtlingspolitik mit der Umverteilung von Ankömmlingen aus Italien und Griechenland. Dritter Punkt ist die Terrorgefahr im Europa der offenen Grenzen. Übermächtig einerseits, ineffizient andererseits - EU-Skepsis hat nicht nur in Frankreich Konjunktur. Im Wahlkampf ging die Mehrzahl der elf Präsidentschaftskandidaten auf Distanz zu Brüssel.
Als aussichtsreichster Kandidat gilt trotz allem der europafreundliche Jungstar Macron. Doch war das Rennen vor dem ersten Wahlgang extrem eng und Le Pen könnte, wenn sie am Sonntag Platz eins oder zwei erreicht, zumindest in die Stichwahl am 7. Mai einziehen. In dieser Gemengelage will auch Macron nicht willfährig gegenüber Brüssel und Berlin dastehen. Zuletzt forderte er einen „Ausgleich“ für die hohen Handelsüberschüsse Deutschlands, die der Wirtschaft der Eurozone schadeten. Außerdem gilt: Kämen die beiden radikalen Kandidaten Le Pen und Mélenchon wie in Umfragen zusammen auf 40 oder mehr Prozent, wäre auch dies ein Warnschuss für Brüssel. Die Botschaft lautet wohl in jedem Fall: Die EU und die Eurozone müssen sich ändern. Doch von tiefgreifenden Reformen will Kanzlerin Angela Merkel nichts hören.
Merkel hat in den vergangenen Wochen unter anderen Fillon und Macron getroffen, nicht aber Le Pen. Zwischen der Politik der Front National und der Politik der Bundesregierung gebe es „überhaupt keine Berührungspunkte“, beteuerte ihr Sprecher. Weder Merkel noch ihr SPD-Rivale Martin Schulz würden wohl den Schulterschluss mit einem Staatsoberhaupt suchen, das Frankreich aus der EU führen will. Die jahrzehntealte, so wichtige Freundschaft beider Länder würde heruntergekühlt bis zum Gefrierpunkt - ein bitterer Rückschlag für Deutschland und Frankreich und für ganz Europa.
Merkel steht für ein starkes Europa. In vielen EU-Staaten gibt es zwar seit der Finanz- und Schuldenkrise Unmut über ihre strikten Spar- und Reformvorgaben. Doch wenn es darum geht, die Europäische Union als starken Verbund von 500 Millionen Menschen etwa gegen die USA oder China oder Russland herauszustellen, versammeln sich EU-Länder auch gern hinter der Kanzlerin. Im Ausland wird Merkel als mächtigste Frau Europas wahrgenommen. Sollte sich Frankreich von der EU abwenden, würden sich andere Staaten umso mehr an Deutschland wenden, wenn es um europäische Belange ginge. Das wäre wohl auch so, falls Schulz nach der Bundestagswahl im Herbst Kanzler würde.
Hier gibt es mehrere Lesarten. Die einen sagen, würde Le Pen tatsächlich die Wahl gewinnen, sei Merkels Wiederwahl so gut wie sicher. Die Begründung: Viele Bürger in Deutschland wollten nach der Brexit-Entscheidung, der Trump-Wahl und einem möglichen Le-Pen-Schock nicht auch noch zuhause einen Wechsel. Die anderen meinen, Schulz schaffe es, auch potenziellen Wählern der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland das Gefühl zu vermitteln, dass er sie und ihren Ärger und Protest ernst nehme. Das könnte die SPD stärken. Und wieder andere glauben, ein Sieg Le Pens würde der AfD neuen Schub geben. Derzeit sieht es aber eher nach einem Duell der beiden europafreundlichen Volksparteien Union und SPD aus.
Derlei Töne hört man in Berlin nicht so gerne. Dort ist man zugleich eher skeptisch ob der Mahnung von Macron und Pisani-Ferry, ohne Reformen – einschließlich möglicher Vertragsänderungen – werde die EU binnen zehn Jahren implodieren. Oder über deren Werben für eine komplett umgesetzte Bankenunion, unter der zwar nicht Schulden vergemeinschaftet werden sollen, aber doch Risiken.
Doch Pisani-Ferry mag feste Überzeugungen haben, er trägt sie denkbar weich vor. Kanzlerin Angela Merkel oder Finanzminister Wolfgang Schäuble kritisiert der Politikberater nie direkt, lieber spricht er allgemein von „großen gemeinschaftlichen Fehlern“. Es wird schwer werden, dem höflichen Pisani-Ferry – und dem jungen Hoffnungsträger Macron – Entgegenkommen abzuschlagen.