Europa im Schockzustand. Marine Le Pen gewinnt acht Millionen Stimmen mehr als im ersten Wahlgang und wird französische Staatspräsidentin. Emmanuel Macron, der sozialliberale Hoffnungsträger von Millionen Franzosen und Europäern, konnte die in ihn gesteckten Hoffnungen nicht erfüllen. Viele Wohlbeobachter halten dieses Szenario für den kommenden Sonntag zwar für unwahrscheinlich. Doch nach Donald Trump und Brexit mag sich keiner festlegen, ob die Umfragen, die Macron vorne sehen, zuverlässig sind.
Henrik Enderlein von Hertie School of Governance befürchtet schwere politische und wirtschaftliche Turbulenzen, falls Le Pen die Präsidentschaftswahl gewinnen sollte. „Die Kapitalflucht würde sofort beginnen“, sagte der Ökonom am Dienstag bei einer gemeinsamen Veranstaltung von WirtschaftsWoche und Handelsblatt in Berlin.
Vorbereitet ist auf dieses Szenario niemand. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich öffentlich für Macron stark gemacht. Ein Plan B existiert nicht – kann er auch gar nicht, denn kaum jemand weiß, was Le Pen als Präsidentin tun würde. Lange hatte sie gefordert, Frankreich solle aus dem Euro austreten. Das hat neuerdings keine Priorität mehr. Denn sie möchte erst die Bundestagswahl abwarten, schließlich sei Deutschland ein Verbündeter.„Mit diesem Zugeständnis versucht Le Pen, Stimmen aus dem konservativen Lager für sich zu gewinnen“, sagte Enderlein. Macrons größtes Problem erklärt Christoph Gottschalk, von 2003 bis 2005 Berater des französischen Premierministers Jean-Pierre Raffarin. „Viele Linksintellektuelle wollen ihn partout nicht wählen. Sie fürchten eine Diktatur der Banken“, sagte Gottschalk. Vor allem bei Linken ist Macron aufgrund seiner früheren Tätigkeit als Investmentbanker verhasst.
Wirtschaftspolitische Pläne von Emmanuel Macron
Die Unternehmenssteuer soll von derzeit 33 auf 25 Prozent gesenkt werden. Die Steuergutschrift für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (CICE) soll umgewandelt werden in eine dauerhafte Entlastung für Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen.
An der 35-Stunden-Woche soll festgehalten werden. Allerdings könnte sie flexibler geregelt werden, indem Betriebe über die tatsächliche Arbeitszeit mit ihren Beschäftigten verhandeln.
Sie sollen von bestimmten Sozialabgaben befreit werden. Dadurch könnten Niedriglohnempfänger einen zusätzlichen Monatslohn pro Jahr in ihren Taschen haben.
Binnen fünf Jahren sollen 50 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern investiert werden. 15 Milliarden Euro davon sollen in bessere Aus- und Weiterbildung gesteckt werden, um die Einstellungschancen von Jobsuchenden zu verbessern. Ebenfalls 15 Milliarden Euro sind geplant, um erneuerbare Energien zu fördern. Weitere Milliarden sind für die Landwirtschaft, die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, für Infrastruktur und Gesundheitswesen geplant.
60 Milliarden Euro an Einsparungen sind bei den Staatsausgaben vorgesehen, die in Frankreich traditionell hoch sind. Zehn Milliarden Euro soll der erwartete Rückgang der Arbeitslosenquote von derzeit etwa zehn auf sieben Prozent bringen, indem die Ausgaben für Arbeitslosengeld sinken. Durch eine verbesserte Effizienz soll das Gesundheitswesen zehn Milliarden einsparen, weitere 25 Milliarden Euro die Modernisierung des Staatsapparates.
In Gegenden mit niedrigem Einkommen soll die Schülerzahl auf zwölf pro Klasse begrenzt werden. Lehrer sollen als Anreiz für eine Arbeit in solchen Regionen einen Bonus von 3000 Euro pro Jahr bekommen. Mobiltelefone in Schulen sollen für Kinder bis 15 Jahren verboten werden. Alle 18-Jährigen sollen einen Kulturpass im Wert von 500 Euro erhalten, den sie beispielsweise für Kino-, Theater- und Konzertbesuche ausgeben können.
Und dennoch gibt es laut Enderlein mehr Anzeichen, dass die Chefin des Front National am Sonntag verlieren wird, schließlich war der Front National bei den Kommunal- und Europawahlen vor drei Jahren noch deutlich stärker. „Le Pen wollte über 30 Prozent im ersten Wahlgang holen und landete bei 21 Prozent“, sagte Enderlein. Nur wenn Macron noch einen schweren Fehler macht oder überheblich wird, könnte das seinen Sieg noch gefährden. Angenommen der 39-jährige Ex-Wirtschaftsminister wird Staatspräsident, geht es direkt mit den Parlamentswahlen im Juni weiter. „Die ist mindestens genauso wichtig wie die Präsidentschaftswahl“, meint Enderlein.
Dann wählen die Franzosen in zwei Wahlgängen eine neue Nationalversammlung. Macrons Bewegung oder die Konservativen könnten hier eine absolute Mehrheit holen. Sollte Macron die Parlamentswahl verlieren, wäre er ein Präsident ohne Mehrheit im Parlament, de facto eine lame duck.
Deutlich wahrscheinlicher aus Sicht von Henrik Enderlein ist aber, dass keine Partei eine absolute Mehrheit gewinnt. Dann würde es in Frankreich wohl zu einer Koalitionsregierung kommen – beispielsweise zwischen En Marche und den Konservativen. „Dann könnte beispielsweise Christine Lagarde Premierministerin werden“, prophezeit Enderlein. Der Chefin des Internationalen Währungsfonds werden Ambitionen für eine Rückkehr in die Politik nachgesagt. Käme es zu einer solchen Konstellation, würde in Frankreich eine Art große Koalition regieren – durchaus vergleichbar mit Deutschland.