„Uns Galliern ist der Himmel auf den Kopf gefallen.“ Es sei "apokalyptisch", was in Frankreich in jüngster Zeit passiert sei. Nun ja, Jean-Louis Bourlanges, früherer Europaabgeordneter der gemäßigten Rechten, übertreibt wohl etwas.
Die Welt wird nicht untergehen, auch nicht jener schöne Teil der Welt zwischen Pyrenäen und Rhein, den seine Bewohner manchmal mit ihr verwechseln. Aber das bisherige parteipolitische System Frankreichs, zu dem Bourlanges gehört, verändert sich gerade radikal und in atemberaubendem Tempo, das kann man schon vor den Präsidentschaftswahlen sagen.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Fünften Republik, also seit 1958, wird wahrscheinlich kein Politiker der Sozialisten ( „la gauche“, die gemäßigte Linke) oder der in General de Gaulles Tradition stehenden Parteien („La droite“, die gemäßigte Rechte) zum Präsidenten gewählt werden. Die beiden großen Kräfte der französischen Nachkriegspolitik werden vermutlich nicht mehr die beiden Hauptakteure stellen, die sich im zweiten entscheidenden Durchgang am 7. Mai zur Wahl stellen. Nach dem freiwilligen Verzicht des auf ganzer Linie gescheiterten sozialistischen Präsidenten François Hollande und dem Sieg des vermutlich chancenlosen Linksaußen Benoît Hamon in den Vorwahlen der Sozialisten, stehen nun auch die gemäßigten Rechten, die „Republicains“, ohne aussichtsreichen Kandidaten da. Ihr gewählter Spitzenkandidat François Fillon hat Medienberichten zufolge seiner Ehefrau Penelope einen großzügig bezahlten Scheinjob verschafft und auch seine Kinder für "präzise Missionen" bezahlt. Damit ist sein Image als katholischer, konservativer Saubermann dahin - obwohl er mittlerweile als reuiger Sünder in die Gegenoffensive ging und in einem Brief an alle Franzosen die Rechtmäßigkeit aller Zahlungen beteuert.
Frankreichs Präsident - das mächtigste Staatsoberhaupt
Von allen Staatsoberhäuptern der Europäischen Union hat der französische Präsident die größten Vollmachten. Seine starke Stellung verdankt er der Verfassung der 1958 gegründeten Fünften Republik, ihr erster Präsident war General Charles de Gaulle.
Der Staatschef wird seit 1965 direkt vom Volk gewählt und kann beliebig oft wiedergewählt werden. Seit 2002 beträgt seine Amtszeit noch fünf statt sieben Jahre.
Der Präsident verkündet die Gesetze, kann den Premierminister entlassen und die Nationalversammlung auflösen. In Krisenzeiten kann er den Notstandsartikel 16 anwenden, der ihm nahezu uneingeschränkte Vollmachten gibt.
Der Staatschef ist gegenüber dem Parlament nicht verantwortlich. Durch eine 2007 beschlossene Verfassungsänderung sind Staatschefs im Amt vor Strafverfolgung ausdrücklich geschützt. Das Parlament kann den Präsidenten nur bei schweren Verfehlungen mit Zweidrittelmehrheit absetzen.
Frankreichs Staatschef ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und hat in der Verteidigungs- und Außenpolitik das Sagen. Seine stärksten Druckmittel sind der rote Knopf zum Einsatz von Atomwaffen und das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat.
Der Präsident ernennt den Premierminister und auf dessen Vorschlag die übrigen Minister, leitet die wöchentlichen Kabinettssitzungen und nimmt Ernennungen für die wichtigsten Staatsämter vor.
Seine Macht wird jedoch eingeschränkt, wenn der Regierungschef aus einem anderen politischen Lager kommt und der Präsident keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Dieser Fall der „Kohabitation“ war bei der Verabschiedung der Verfassung nicht vorgesehen. Er trat aber bereits drei Mal ein, zuletzt 1997 bis 2002, als der konservative Staatschef Jacques Chirac mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin auskommen musste.
Die Vetternwirtschaft, die Fillon offenbar während seiner Zeit als Abgeordneter praktizierte, entspricht zwar durchaus dem, was in Frankreichs politischer Elite verbreitet war. Die beiden Ex-Präsidenten Francois Mitterand und Jacques Chirac haben ihre Ehefrauen, Konkubinen und Töchter großzügig auf Kosten der Steuerzahler ausgestattet. Doch die Geduld der Franzosen mit dieser Praxis ist mittlerweile erschöpft. Vor allem gegenüber einem Kandidaten, der seine bürgerlich Anständigkeit zuvor offensiv vermarktete, und 500.000 Beamtenstellen streichen will.
Natürlich ist Fillons Fall ein persönlicher. Aber sein moralisches Versagen und die Enttäuschung der Wähler schwächen nicht nur Fillon, sondern die gemäßigte Rechte insgesamt. Sein Fall und die Hinwendung der Sozialisten zu einem mehrheitsunfähigen Radikalen dürften mehr offenbaren als Pech und Pannen. Die Linken wie die Rechten wirken verbraucht und haben kaum noch Aussicht auf Wählermehrheiten. In den aktuellen Umfragen stehen Hamon und Fillon auf Rang drei und vier, dürften also beide nicht in den entscheidenden zweiten Wahlgang kommen. „Beide Regierungsparteien sind entgleist“, sagt Bourlanges.
Hinter dem persönlichen Versagen steht mehr: Was Frankreich in diesem Wahljahr möglicherweise anderen europäischen Demokratien vorlebt, ist die Ablösung der politischen Konfliktlinie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen gemäßigten Linken und gemäßigten Rechten durch eine neue: Nämlich die, wie der Politologe Michael Zürn schreibt, „zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung, zwischen Kosmopoliten, die für offene Grenzen und universelle Werte eintreten, und Kommunitaristen, denen eine Begrenzung der Offenheit und nationalstaatliche Souveränität wichtig ist.“
Macron als Erbe der alten Parteien
Dieser Gegensatz ist in Frankreich noch deutlicher als in Deutschland durch den Niedergang der beiden großen alten Parteien gekennzeichnet. Beide stehen mehr oder weniger deutlich auf derselben Seite dieser neuen Konfliktlinie, aber da sie als Exponenten des alten Links-Rechts-Schemas erscheinen, wirken sie verbraucht und verlieren auch für Befürworter der Globalisierung an Anziehungskraft. Auf der Gegenseite steht so gut wie unangefochten allein Marine Le Pen mit ihrer Front National.
Als zeitgemäßer, attraktiver Ersatz für Sozialisten und Gaullisten ist in Frankreich nun Emmanuel Macron zum Exponenten derer geworden, die die Globalisierung weiterhin als Gewinn oder Chance betrachten. Der noch nicht einmal 40-Jährige will mit seiner Bewegung "En Marche!" („Vorwärts!“) das Erbe der beiden alten Parteien antreten.
Macron ist die fleischgewordene Erfüllung der Vorstellungen, für die er steht: globalisierte Wirtschaft, ökonomisierte Gesellschaft. Man könnte ihn einen Populisten des Establishments nennen. Sein eigener kometenhafter Werdegang personifiziert wohl all die Hoffnungen, die die vielen und erstaunlich jungen Anhänger seiner Bewegung vermutlich mit der Globalisierung verbinden. Der Ärztesohn aus Amiens ist Absolvent der Elite-Hochschule ENA, war Investment-Banker und machte in Hollandes Beraterstab solchen Eindruck, dass der ihn 2014 zum Wirtschaftsminister erhob – als Nachfolger des linken Überzeugungstäters Arnaud Montebourg.
Macron war nie in der Sozialistischen Partei. Für alte, linke oder rechte Vorstellungen ist in seiner Politik kein Platz. Sie wären nur Ballast. Seit er im Frühjahr 2016 seine Bewegung gegründet hat, macht er das immer wieder deutlich, beruft sich auf den Sozialisten Mitterand ebenso wie auf den gaullistischen Ex-Präsidenten Jacques Chirac und nicht zuletzt auf das Original selbst, auf den „General“ - Charles de Gaulle. Macron hat für fast jeden etwas zu bieten, der sich auf der Gewinnerseite fühlt.
Fast gleichzeitig mit Marine Le Pen und in derselben Stadt – Lyon - eröffnete Macron am vergangenen Wochenende den Wahlkampf. Die noch vagen Ankündigungen, die er in Ermangelung eines Wahlprogramms machte, entsprechen einem Fitnessprogramm für die globalisierte Wirtschaft, mit der er die Franzosen „versöhnen“ will. Immer wieder taucht das Adjektiv „effizient“ in seiner Rede auf. Macron spricht Sätze, die an Manager-Coachings erinnern oder an Investoren-Roadshows.
Macron, das wird deutlich, will die Ehrgeizigen erreichen, diejenigen, die innerhalb des Systems erfolgreich sind oder es werden wollen. Neben wirtschaftsliberalen Botschaften kommen bei ihm aber auch die sozialdemokratischen nicht zu kurz. Macron erzählt Aufsteigergeschichten, von dem aus kleinen Verhältnissen stammenden beliebten Parlamentspräsidenten Philippe Seguin und von einer gewissen Lynda, einem muslimischen Einwandererkind, die ihm einen Brief geschrieben habe und nun Notarin geworden sei. Seine Botschaft ist eine des Optimismus: „Die Lust auf Zukunft“ –„Das Beste liegt noch vor uns.“
Die "144 Verpflichtungen" von Le Pen
Deutlicher als Macron spricht Le Pen den neuen Gegensatz aus, dem sie ihren Wählerzuspruch verdankt. In der Einleitung zu ihren „144 Verpflichtungen“, also ihrem Wahlprogramm, stellt Le Pen zwei "Visionen" gegenüber: „Die globalistische Entscheidung auf der einen Seite, vertreten durch alle meine Konkurrenten, die versucht, unsere großartigen wirtschaftlichen und sozialen Gleichgewichte zu zerstören, die die Abschaffung aller Grenzen will, ökonomischer und materieller, und die noch mehr Einwanderung und weniger Zusammenhalt der Franzosen möchte. Andererseits die patriotische Wahl, für die ich stehe, die die Verteidigung der Nation und des Volkes ins Zentrum jeder öffentlichen Entscheidung stellt und vor allem den Schutz unserer nationalen Identität, unserer Unabhängigkeit, der Einheit der Franzosen, der sozialen Gerechtigkeit und des Wohlstands Aller will.“
Der Anspruch, weder rechts noch links zu sein, ist das einzige, was Macron mit Le Pen verbindet. Beide lassen die abgenutzten politischen Kategorien der Vergangenheit hinter sich.
Das ist Marine Le Pen
Marine Le Pen, Tochter des Politikers und FN-Gründers Jean-Marie Le Pen wurde am 5. August 1968 in Neuilly-sur-Seine geboren. Als Kind überlebte sie ein Attentat, das 1976 gegen das Wohnhaus der Familie verübt wurde. Die 46-Jährige war mit Geschäftsmann Franck Chauffroy verheiratet. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Nach der Scheidung heiratete sie den FN-Funktionär Éric Lorio. Auch diese Ehe scheiterte. Marine Le Pen studierte in Paris Jura und erhielt 1992 die Anwaltszulassung. Bis 1998 war sie als Anwältin tätig. Besonders markant ist ihre dominante und und für eine Frau sehr tiefe Stimme.
Seit Marine Le Pen den Parteivorsitz inne hat, versucht sie frischen Wind in den „Front National“ zu bringen. So hat sie sich zum Ziel gesetzt, Anspielungen auf das Dritte Reich zu vermeiden, um das Bild einer rechtsextremen Partei loszuwerden. Dazu passt auch, dass sie sich stärker auf die Alltagsprobleme der Bürger fokussiert. Die hohe Arbeitslosigkeit und steigende Preise sind nun die neuen zentralen Themen. Ihre Rezepte zur Überwindung der Krise: Heimische Investoren sollen von einer Abwanderung abgehalten werden, Franzosen sollen bei der Jobsuche bevorzugt werden und das Land aus dem Euro austreten. Feindbild ist die "wilde Globalisierung".
Von 1998 bis 2004 war Marine Le Pen Abgeordnete im Parlament der Region Nord-Pas-de-Calais. Über ihren Wahlkreis Île-de-France zog sie 2004 ins Europaparlament ein. Nach Stationen im Regionalparlament der Île-de-France wurde sie 2011 an die Parteispitze des Front National gewählt. Bei der Präsidentenwahl 2012 wurde sie nach Hollande und Sarkozy drittstärkste. Zeitweise sahen Umfrageergebnisse, die im Magazin „Le Nouvel Observateur“ erschienen sind, den Front National als stärkste französische Partei. Seit der Europawahl im Mai 2014 ist sie Abgeordnete im Europäischen Parlament.
Eine explizite Feindschaft zum Islam gehört zu den zentralen Positionen Le Pens und ihrer Partei. Eine entsprechende Äußerung in einer Wahlkampfrede im Dezember 2010 brachte Le Pen ins Visier der Staatsanwaltschaft. Sie verglich öffentliche Gebete von Muslimen mit der deutschen Nazi-Besatzung. "Sicher geschieht dies ohne Panzer und ohne Soldaten, aber trotzdem ist es eine Besatzung, und betroffen sind die Einwohner", so Le Pen.
Aber während Le Pen „die Linke des Zasters und die Rechte des Zasters“ verunglimpft, findet Macron kein kritisches Wort über seine Konkurrenten auf der Linken – Hamon – oder der gemäßigten Rechten – Fillon. Schließlich will er spätestens im zweiten Wahlgang ihre verbliebenen Wähler hinter sich vereinen. Bei der Bekanntgabe seiner Kandidatur im November sagte er: "Meine Aufgabe ist es nicht, die Linke zusammen zu bringen oder die Rechte zusammen zu bringen, sondern Frankreich zusammen zu bringen." Macron will der Erbe der alten Parteien sein, Le Pen präsentiert sich als Gegnerin aller Etablierten, als diejenige, die „im Namen des Volkes“ spricht.
Während Macron zweideutig die „Lust zum Überschreiten unserer Grenzen“ beschwört, bietet sich Le Pen als Beschützerin derjenigen an, die die Globalisierung als Bedrohung und den Nationalstaat als sicheren Hafen sehen. Während Macron sich „total“ zur EU bekennt und von der „Versuchung der Abschottung“ spricht, der man nicht nachgeben dürfe („In meinem Programm wird es keine Mauern geben“), macht Le Pen klar: Frankreich soll die Gewalt über seine Landesgrenzen ausüben, der Nationalstaat ist allein legitimiert, politische Entscheidungen zu treffen - und nicht die EU oder gar internationale Organisationen.
Vermutlich wird Le Pen nicht Präsidentin. Glaubt man den Umfragen, wird sie zwar im ersten Wahlgang in Führung liegen, aber dann im zweiten Wahlgang Macron unterliegen. Er wird wohl die Mehrheit der Anhänger der anderen Parteien an sich ziehen können. Aber der enorme Auftrieb, den Le Pen durch den Wahlkampf schon jetzt gewonnen hat, und der Niedergang der alten Parteien könnte dazu führen, dass ihre Partei bei den Parlamentswahlen nur einen Monat später schafft, was ihr bislang auf Grund des Mehrheitswahlrechts nicht gelingen konnte: Zahlreiche Wahlkreise und damit Abgeordnetensitze zu erobern und zur stärksten und einzigen eindeutigen Oppositionskraft zu werden. Macron dagegen steht im Falle seines Sieges vor der Aufgabe, eine neue Regierungspartei aus dem Boden zu stampfen. Bourlanges hält das für eine "fast unmögliche Mission". Bis jetzt hat „En Marche!“ noch nicht einmal ein Parteiprogramm.