Das würde erklären, warum sie es am Sonntag nicht zum äußersten kommen ließen. Für den Fall eines Einzugs in die Stichwahl von Le Pen und Mélenchon hatten Experten eine massive Kapitalflucht befürchtet. Laut Reynié trugen solche Ängste in den vergangenen Wochen auch dazu bei, dass Le Pen ihren Anti-EU-Kurs abschwächte und die Entscheidung über einen Ausstieg nun von einem Referendum etwa ein Jahr nach ihrer Wahl abhängig machen will. „Wenn sie bis zur Stichwahl Anhänger der Konservativen zu sich herüber ziehen will, muss sie auch diesen Vorschlag komplett fallen lassen,“ ist Reynié überzeugt.
Wählerpotenzial für die FN ist bei den konservativen Republikanern durchaus vorhanden. Zwar rief deren Kandidat François Fillon nach Bekanntwerden seiner eigenen Niederlage sofort zur Unterstützung Macrons auf. Allerdings sind vor allem dessen Wähler im Süden des Landes und in erzkatholischen Kreisen eher für den ausländerfeindlichen Teil des FN-Programms zugänglich als für die Botschaft Macrons einer offenen Gesellschaft, in der es nicht die eine französische Kultur gibt. Befragungen zu Folge wollen nur gut ein Drittel der Republikaner-Wähler in zwei Wochen für Macron stimmen.
Ohnehin ist die Zukunft der Republikaner und mehr noch die der französischen Sozialisten nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen ungewiss. Dass keine der beiden großen Parteien, die den vergangenen Jahrzehnten die Politik des Landes bestimmten, es in die Stichwahl schaffte, ist ein für sie schwer zu verkraftendes Novum. Der Kandidat der Sozialisten, Benoit Hamon, kam gerade einmal auf etwas mehr als sechs Prozent der Stimmen.
Enttäuscht über die vergangenen fünf Jahre sozialistischer Regierung unter einem ihrer Meinung nach zu liberalen Staatschef François Hollande wandten sich zahlreiche ehemalige Wähler entweder weiter nach links Mélenchon zu oder Le Pen. Obwohl die FN rechtsextrem ist, verfolgt sie ein linken Wählerinteressen zugeneigtes Wirtschaftsprogramm. Es macht den Staat für das Glück seiner Bürger verantwortlich. Bei der Herabsetzung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre sowie der Erhöhung von Staatsausgaben und niedrigen Löhnen etwa sind die Programme von Le Pen und Mélenchon nahezu deckungsgleich.
Frankreichs Präsident - das mächtigste Staatsoberhaupt
Von allen Staatsoberhäuptern der Europäischen Union hat der französische Präsident die größten Vollmachten. Seine starke Stellung verdankt er der Verfassung der 1958 gegründeten Fünften Republik, ihr erster Präsident war General Charles de Gaulle.
Der Staatschef wird seit 1965 direkt vom Volk gewählt und kann beliebig oft wiedergewählt werden. Seit 2002 beträgt seine Amtszeit noch fünf statt sieben Jahre.
Der Präsident verkündet die Gesetze, kann den Premierminister entlassen und die Nationalversammlung auflösen. In Krisenzeiten kann er den Notstandsartikel 16 anwenden, der ihm nahezu uneingeschränkte Vollmachten gibt.
Der Staatschef ist gegenüber dem Parlament nicht verantwortlich. Durch eine 2007 beschlossene Verfassungsänderung sind Staatschefs im Amt vor Strafverfolgung ausdrücklich geschützt. Das Parlament kann den Präsidenten nur bei schweren Verfehlungen mit Zweidrittelmehrheit absetzen.
Frankreichs Staatschef ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und hat in der Verteidigungs- und Außenpolitik das Sagen. Seine stärksten Druckmittel sind der rote Knopf zum Einsatz von Atomwaffen und das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat.
Der Präsident ernennt den Premierminister und auf dessen Vorschlag die übrigen Minister, leitet die wöchentlichen Kabinettssitzungen und nimmt Ernennungen für die wichtigsten Staatsämter vor.
Seine Macht wird jedoch eingeschränkt, wenn der Regierungschef aus einem anderen politischen Lager kommt und der Präsident keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Dieser Fall der „Kohabitation“ war bei der Verabschiedung der Verfassung nicht vorgesehen. Er trat aber bereits drei Mal ein, zuletzt 1997 bis 2002, als der konservative Staatschef Jacques Chirac mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin auskommen musste.
Anders als der Sozialist Hamon, der seine Anhänger bat, für Macron zu stimmen, vermied Mélenchon zunächst ausdrücklich jede Wahlempfehlung. Es ist nicht auszuschließen, dass er die Meinung einiger kleinerer linksgerichteter Kandidaten teilt, die politische Debatte müsse nun auf der Straße ausgetragen werden. Das ließe nicht Gutes für künftige Reformen erwarten.
Macron weiß das nur zu gut. Als er am Sonntagabend vor seine Anhänger trat, schickte er einen Gruß an sämtliche unterlegenen Kandidaten und ließ seine Fans applaudieren. „Danke, das vereint uns,“ sagte er. Er wolle alle Franzosen hinter sich versammeln, denn „die Kraft der Einheit wird entscheiden, wie ich Präsident sein und regieren kann“.