Kurz vor der Bundestagswahl geht es plötzlich wieder um die Geldpolitik. Anfang dieser Woche hat das Bundesverfassungsgericht (BVG) einen Beschluss zu Verfassungsbeschwerden gefällt. Es hat den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gebeten zu überprüfen, ob die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrem Programm zum Ankauf von Staatsanleihen ihr Mandat überschreitet.
Bereits seit anderthalb Jahren kauft die EZB jeden Monat auf dem Sekundärmarkt Staatsanleihen für 60 Milliarden Euro. Laut Bundesverfassungsgericht vermittelte das den Finanzmarktteilnehmern (und Regierungen) die faktische Gewissheit, dass neuemittierte Anleihen sicher gekauft würden. Zwar gäbe es geldpolitische Ziele, aber eben auch wirtschaftspolitische Konsequenzen.
Der Beschluss hat die erwarteten Reaktionen hervorgerufen: Kritiker der EZB sehen sich bestärkt, allen voran die Kläger. Verteidiger der Geldpolitik wie der Berliner Kollege Marcel Fratzscher werden sinngemäß so zitiert, dass der Beschluss Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der EZB verringert. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: die Handlungsfähigkeit und Unabhängigkeit der EZB wird gestärkt bzw. wieder hergestellt.
Das Wörterbuch der EZB: Die Schlüsselwörter der Notenbanker - und was sie bedeuten
Die Konjunktur verbessert sich.
Bezogen auf die Inflation, heißt dies, die EZB lässt sich von kurzfristigen Sprüngen durch höhere Ölpreise nicht beeindrucken. Erst wenn die Inflation, mehrere Monate lang bei zwei Prozent liegt, ist eine Zinserhöhung denkbar.
Die EZB ist mit ihrem geldpolitischen Kurs zufrieden. Keine Zinsänderungen.
Die EZB hält die Konjunkturlage für instabil. Die Zinsen bleiben niedrig.
Die EZB will die Finanzmärkte beruhigen und bereitet sich auf Interventionen vor, sollten sich Konjunktur und/oder Inflation anders als gewünscht entwickeln.
Die EZB hält ihren aktuellen Kurs für angemessen und plant in nächster Zeit keine Änderungen.
Diesen Begriff verwendet die EZB mit Blick auf Inflationsfaktoren, etwa Löhne und Kapazitätsauslastung. Erst wenn beide steigen, ist mit höheren Leitzinsen zu rechnen.
Die Geldmenge M3 (Bargeld, Sicht-, Termin- und Spareinlagen, Geldmarktfonds, Bankschuldverschreibungen) wächst zu schnell. Eine geldpolitische Straffung wird opportun.
Hier kommt meist ein warnender Unterton ins Spiel. Die EZB sieht Risiken für die Preisstabilität und ist geneigt, die Zinsen bald zu ändern.
Die EZB signalisiert, dass es aus ihrer Sicht noch zu früh ist, die Zinsen zu ändern.
Ein Signalwort. Auch an die eigene Adresse: Die EZB ist handlungsbereit. Beim nächsten Treffen ist mit einer Zinsänderung zu rechnen.
Steigerung von wachsam. Die EZB befindet sich in erhöhter Alarmbereitschaft. Es gibt eine starke Bereitschaft, die Zinsen zu ändern.
Das Statut der EZB verbietet der Zentralbank die Finanzierung von Staatshaushalten. Deswegen gehört schon eine gewisse Blauäugigkeit dazu, im Ankaufprogramm keine Staatsfinanzierung zu erkennen. Schon lange steht die EZB mit ihrer Politik gerade in Deutschland in der Kritik. Wenn man bedenkt, dass es in der Geschichte der Menschheit keine einzige Hyperinflation gab, die nicht durch die Unfähigkeit der Regierungen zur regulären Finanzierung ihrer Ausgaben verursacht wurde, wird diese Kritik nachvollziehbar.
Natürlich argumentiert die EZB mit Blick auf ihre lockere Geldpolitik ganz anders, und dabei vornehmlich mit dem Inflationsziel von knapp zwei Prozent, dass immer noch unterschritten wird. Zudem wird das Argument vorgetragen, mit dem Ankaufprogramm für Staatsanleihen werde es den Banken ermöglicht, mittels der Ausweitung der Kreditvergabe private Investitionen zu ermöglichen. Drittens gebe das Programm den Regierungen Zeit für die notwendigen wirtschaftspolitischen Reformen, zu denen die EZB die Regierungen in der Tat immer wieder auffordert.
Dabei droht keinesfalls eine Deflation. Ohne den schwachen Ölpreis wäre die Inflationsrate in der Eurozone sicherlich höher. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die EZB nur bei steigender, aber nicht bei fallender Inflation mit der Kerninflation argumentiert. Zweitens dürfte die Investitionsschwäche einiger EU-Mitgliedsstaaten nicht an überhöhten Zinsen, sondern an den unzureichenden Angebotsbedingungen liegen. Wer bei Zinsen von 1,5 Prozent nicht investiert, tut dies auch bei 1,0 Prozent nicht. Drittens wirkt es – passend dazu – so, als ob die Regierungen gerade in Italien und Frankreich bisher die geldpolitische Unterstützung eher dazu genutzt haben, politisch unbequeme Reformen zu verschleppen.
Die EZB eine Marionette?
All das legt den Verdacht nahe, dass die EZB schon lange nicht mehr Herr ihrer Geldpolitik ist, sondern sich nach den Wünschen der Finanzminister richtet. Ihre Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit scheint unter diesen Bedingungen eher eingeschränkt zu sein. So gesehen wirkt die EZB wie eine machtlose Marionette.
Folgt man dieser Interpretation, kann der Karlsruher Beschluss für die EZB und ihre Leitung nur von Vorteil sein. Dabei gilt folgende Logik. Mit der Kritik an der lockeren Geldpolitik und der Staatsfinanzierung durch diese Geldpolitik stärkt das BVG die Position, dass Geldpolitik ausschließlich monetäre Ziele hat. Es könnte der EZB nun leichter fallen, sich gegen die Finanzminister zur Wehr zu setzen. Gleichzeitig bekommt sie durch die Befragung des EuGH, der sicher etwas Zeit braucht, um den Fall sorgfältig zu prüfen, ein wenig Zeit, um die Zinswende und das Ende des Ankaufprogramms für Staatsanleihen einzuleiten. Natürlich ist nicht zu erwarten, dass diese Wende überstürzt kommt, aber es bestünde die Möglichkeit, die monatlichen Ankaufbeträge zu senken oder das Programm nicht zu verlängern.
Möglicherweise hilft auch der Verweis auf die Zinswende in den Vereinigten Staaten. Sie könnte auch in der Eurozone Handlungsdruck zu höheren Zinsen und geringerem Geldmengenwachstum erzeugen. Auf jeden Fall kann die EZB, sofern sie das tatsächlich will, ihre faktische Unabhängigkeit schrittweise zurückerobern und ihre Handlungsfähigkeit steigern. Der Beschluss aus Karlsruhe hilft ihr auf jeden Fall dabei.
Geldpolitik der EZB
Die EZB setzt ihre ultralockere Geldpolitik unverändert fort: Der Leitzins bleibt bei null Prozent. Monatlich kauft die Notenbank weiter Staatsanleihen und andere Wertpapiere im Milliardenumfang. Basierend auf den aktuellen Daten halte der EZB-Rat die expansive Geldpolitik nach wie vor für angemessen, begründete Draghi. Immerhin sagt Europas oberster Währungshüter, dass die Notenbank derzeit keine Notwendigkeit sehe, noch mehr Geld in die Hand zu nehmen - etwa über neue Langfristkredite für Banken.
Die EZB strebt für den Euroraum eine Inflationsrate von knapp unter 2,0 Prozent an - weit genug von der Nulllinie entfernt. Im vergangenen Jahr wuchs die Wirtschaft im gemeinsamen Währungsraum robust um 1,7 Prozent. Im Februar 2017 dann knackte die Teuerung erstmals seit vier Jahren wieder die Marke von zwei Prozent - die von den Währungshütern angepeilten Ziele scheinen erreicht. Allerdings sind die Unterschiede zwischen den 19 Ländern des gemeinsamen Währungsraumes groß. „Die EZB hat einen Auftrag für den Euroraum insgesamt, und darauf muss sie ihre Geldpolitik ausrichten“, sagte der frühere EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing dem „Handelsblatt“.
Hauptgrund für den Anstieg der Inflation ist ein kräftiger Sprung der Energiepreise. Ökonomen rechnen damit, dass der Höhepunkt zunächst erreicht ist. „In den nächsten Monaten dürfte die Inflationshysterie wieder etwas nachlassen“, erklärt die Commerzbank. Wichtig ist für die Währungshüter eine nachhaltige Entwicklung der Verbraucherpreise. Dabei haben sie auch die Kerninflation im Blick - also die Teuerung ohne stark schwankende Energie- und Nahrungsmittelpreise. Im Februar verharrte diese Rate bei vergleichsweise niedrigen 0,9 Prozent.
„Der große Belastungstest steht vermutlich am 7. Mai an, wenn die Stichwahl darüber entscheidet, ob mit Marine Le Pen eine erklärte Euro-Feindin französische Präsidentin wird“, erläutern Ökonomen der Landesbank Helaba. Solange dies nicht geklärt sei, dürfte EZB-Präsident Draghi keine geldpolitische Kursänderung zulassen. Ähnlich sieht das ING-Diba-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. Sollte sich die politische Unsicherheit nach den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich legen, könnte die Notenbank im Sommer Hinweise auf einen Ausstieg im Jahr 2018 geben. „Dieses Timing könnte helfen, das EZB-Bashing im beginnenden Wahlkampf in Deutschland zu dämpfen“, sagt Brzeski.
Das dürfte noch eine Weile dauern. Draghi bekräftigte erneut, dass die Zinsen auf absehbare Zeit niedrig bleiben werden - mindestens bis zum Auslaufen der Anleihekäufe Ende 2017. Für Sparer ist das Zinstief bei steigender Inflation bitter. Sparbuch und Co. werfen ohnehin kaum noch etwas ab. Solange die Teuerungsrate nahe der Nulllinie dümpelte, glich sich das in etwa aus. Bei steigenden Verbraucherpreisen bleibt Sparern unter dem Strich aber weniger Geld.
Alle, die Kredite aufnehmen, zum Beispiel Immobilienkäufer. Auch wenn die Zinsen wieder leicht steigen, sind Hypothekenkredite immer noch günstig. Die ultralockere Geldpolitik kommt auch dem deutschen Fiskus zugute, weil er sich günstig verschulden kann. „Wären die Zinsen auf dem Niveau des Jahres 2007 geblieben, hätte der deutsche Staat über die Zeit um rund 250 Milliarden Euro höhere Zinsausgaben stemmen müssen“, rechnete Bundesbank-Präsident Jens Weidmann jüngst in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vor.
Die EZB kann nicht von heute auf morgen einfach den Geldhahn zudrehen. Das würde zu schweren Turbulenzen an den Finanzmärkten führen. Um den Markt vorzubereiten, müssten die Währungshüter das Auslaufen der Wertpapierkäufe einige Monate vorher ankündigen, erläutert Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Friedrich Heinemann, Experte am Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW, mahnt: „Dringend nötig wäre eine klare Perspektive für 2018 mit einer realistischen Strategie zum Auslaufen der Anleihekäufe. Wie bei jedem Ausstieg aus einer Droge ist mit Entzugserscheinungen an den Anleihemärkten zu rechnen, auch Panikattacken sind denkbar.“
Die Hoffnung, dass der EuGH das Ankaufprogramm tatsächlich für europarechtswidrig hält, ist wohl gering. Aber der EuGH könnte nochmals die Bedingungen für den Ankauf von Staatsanleihen verschärfen und so der EZB ebenfalls mehr Spielraum geben, sich vom finanzpolitischen Druck aus Rom, Paris (oder Berlin?) zu befreien. Die EZB muss diese Chance natürlich auch nutzen wollen. Täte sie es nicht, muss man eine weitere Verlängerung der Eurokrise befürchten.