Im Szenario 1 gibt es nur Verlierer, denn auch für den Rest der Welt ist ein noch weiter geschwächtes Europa nicht von Vorteil. Allerdings muss es ja nicht zu diesem Negativszenario kommen. Man könnte sich auch vorstellen, dass die Europäer aus dem Brexit lernen und gemeinsam das „Europäische Haus renovieren“. Das zweite Szenario könnte wie folgt aussehen.
In der EU sieht man ein, dass es nicht reicht, nur ständig die Wertegemeinschaft zu beschwören, ansonsten aber die Regeln permanent zu missachten. Die EU reorganisiert sich und konzentriert sich auf das Kerngeschäft, den Binnenmarkt. Umverteilungsprogramme und Regulierungen werden eingeschränkt. Die Kommission tritt insgesamt bescheidener auf, nimmt das Prinzip der Subsidiarität ernst und reduziert ihr Budget.
- Die Agrarpolitik wird reformiert; Außenbarrieren werden abgebaut, und die Subventionierung der Landwirtschaft läuft langsam, aber stetig aus. Die Handelspolitik wird wieder offener, die EU bekennt sich zur WTO und konzentriert sich auf den Abschluss der Doha-Runde. Dann wird der britische Austritt auch nicht so verheerende Wirkungen haben. Widerstand gegen Freihandel in der Öffentlichkeit nimmt langsam ab, weil Anbieter aus Entwicklungsländern in Europa besser als Fuß fassen können.
- In die Flüchtlingsfrage kommt eine ungewohnte Dynamik. Im Lichte der ökonomischen Erfolge dank der Verschlankung der EU einigen sich die Mitglieder auf eine belastbare Regel (Schengen mit wirksamem Schutz der Außengrenzen und einer nachvollziehbaren Quotenregel). Es wird zudem an einem überzeugenden Einwanderungskonzept auf nationaler Ebene mit internationaler Koordinierung gearbeitet. Großbritannien schaut neidisch auf den Kontinent, wo die Integration der Migranten sich stetig verbessert.
- Die nationalen Regierungen missbrauchen die Europäische Kommission nicht länger dazu, die Wünsche der Partikularinteressen in den Ländern durchzusetzen und dabei gleichzeitig auf „die da in Brüssel“ zu schimpfen. Jahrzehntelang haben die Mitglieder mit dieser Praxis dazu beigetragen, das öffentliche Image der Kommission zu verschlechtern. Dabei ist die Kommission keineswegs das bürokratische Ungetüm. Als das sie oft verkauft wird.
- Die Europäische Währungsunion wird neu vermessen; es gibt die Möglichkeit, sie temporär zu verlassen. Von dieser Möglichkeit macht Griechenland Gebrauch und beginnt bereits nach zwei Jahren zu florieren. Der Euro ist keine Religion mehr, sondern wird zu einer von mehreren Währungen in der Eurozone.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Insgesamt kommt die EU leichter und flexibler daher; die Menschen beginnen die europäische Integration wieder wertzuschätzen. Die Nationalisten verschwinden langsam. Großbritannien kann ebenfalls das Schlimmste vermeiden:
- Das Land verbleibt im Binnenmarkt. Damit bleiben die Briten auch in allen Freihandelsabkommen der EU.
- Für die in Großbritannien lebenden EU-Ausländer gelten die bisherige Regeln. Für neu Hinzuziehende werden Regeln verhandelt, die die Allokation auf dem Arbeitsmarkt nicht stören und auch keine unzumutbaren Wanderungshemmnisse bilden.
- Die Verluste auf der britischen Insel sind insgesamt sehr moderat, der Finanzsektor verbleibt in London. In dem neuen Setting kann sich die britische Regierung sogar mit der EU und der Eurozone sogar auf eine gemeinsame Finanzmarktregulierung einigen.
Schottland tritt nicht aus.
Die neue Leichtigkeit der EU überzeugt auf dem gesamten Kontinent, und die EU gewinnt an Zustimmung – Großbritannien tritt 2025 wieder ein!
Beide Szenarien sind übertrieben und dienen ausschließlich der Veranschaulichung möglicher Probleme und Lösungsmöglichkeiten. Auf jeden Fall machen sie deutlich, dass ein Konfrontationskurs zwischen den Briten und der EU niemandem hilft.
Ganz im Gegenteil: Die Briten sollten erkennen, dass ihnen die Mitgliedschaft in der EU nicht schadet und den Brexit krachend abschmettern. Und die politischen Entscheidungsträger in der Europäischen Union sollten erkennen, dass die EU stark reformbedürftig ist – dabei könnte durchaus ein „Weniger“ anstelle eines „Mehr“ an Europa herauskommen. Wäre das wirklich so ein Drama?