Freytags-Frage

Brauchen wir mehr oder weniger Europa?

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Vier Gründe gegen mehr Zentralisierung

Diese Stimmen – die zumeist der sog. neuen Rechten zuzuordnen sind, die aber auch in mancher Hinsicht, wenn auch sicher ungewollt, deckungsgleich mit dem neuen Linksbündnis des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varouvakis sind – sollte man ernst nehmen. Denn die Aussagen haben einen realistischen Kern (egal, wer sie macht). Mehrere Gründe sprechen gegen Zentralisierung:

- Erstens scheint es keine europäische Öffentlichkeit zu geben, die bereit ist, fiskalpolitische Entscheidungen aus einer Zentrale zu akzeptieren. Die Menschen fühlen sich dabei fremdbestimmt und werden auch anfälliger für billige nationalistische Parolen.

- Dabei ist es zunächst einerlei, ob es zwischenstaatliche Transfers gibt oder nicht. Im Zweifel erhöhen solche Transfers den politischen Widerstand in der Bevölkerung und stärken die nationalistischen Tendenzen.

- Drittens bewirken Transfers Moral Hazard-Verhalten auf Seiten der Empfänger; dies zeigt der deutsche Finanzausgleich. Das Desaster des Berliner Flughafen wäre ohne Finanzausgleich nicht denkbar – man kann sich nicht vorstellen, dass ein Regierender Bürgermeister politisch überlebte, wenn die Berliner Steuerzahler für die verbrannten Milliarden einstehen müssten.

- Das entscheidende Argument liegt aber in den unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Philosophien der Mitgliedsländer der Eurozone. Diese sind geschichtlich tief verwurzelt. Die etatistische und merkantilistische französische Wirtschaftspolitik dürfte in der Bevölkerung ein hohes Maß an Unterstützung finden; in Deutschland ist die Soziale Marktwirtschaft (immer) noch in der Bevölkerung verankert. Als Konsequenz kann deutsche stabilitätsorientierte Finanzpolitik Frankreich schaden; umgekehrt würden die Deutschen unter einer eher protektionistischen und expansiven Wirtschaftspolitik leiden. Man kann sich die anderen Mitglieder der Eurozone ansehen und findet ebenfalls historisch etablierte wirtschaftspolitische Modelle.

Deshalb ist mehr Zentralisierung selbst ohne die gegenwärtigen Konfliktlinien in der Europäischen Union (Flüchtlingskrise, Rettungspakete etc.) nicht angesagt. Gegenwärtig zeigt sich also, dass eine weitere Zentralisierung, ein „Weiter so!“ oder ein „Mehr Europa!“ keine Mehrheit finden dürfte, und dies nicht zu Unrecht. Es ist somit kein Zufall, dass die Ausführungen der beiden Zentralbankpräsidenten zur Fiskalpolitik so vage sind.

Es dürfte eher darauf hinauslaufen, dass die Diskussion um weitere Dezentralisierung, die Rückführung von Zuständigkeiten auf die nationale Ebnen bis hin zur Aufspaltung bzw. Auflösung der Eurozone in den kommenden Jahren wieder an Intensität zunimmt. Die europäischen Entscheidungsträger sollten sich darauf einstellen. Sie sollten sich außerdem darauf besinnen, dass man Fehler ohne Gesichtsverslust korrigieren kann. Die gemeinsame Währung ist und bleibt ein Fehler. Weitere Fehler sollte man auf jeden Fall vermeiden!

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