Freytags-Frage

Wann kommt die Zinswende?

Die EZB belässt den Leitzins bei null Prozent. Und doch ändert sich die Rhetorik der Zentralbanker. Welche Rolle die anstehenden Wahlen in Europa spielen und wann eine Zinswende kommen könnte.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Die Änderung der die Wortwahl Draghis wird von Volkswirten als ein Zeichen dafür gewertet, dass die EZB sich inzwischen ernsthaft mit dem Ausstieg aus der Niedrigzinsphase befasst. Quelle: REUTERS

Gestern hat der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) auf seiner regelmäßigen Sitzung in Tallinn die Zinsen wieder unverändert gelassen. Sie handelt damit erwartungsgemäß, nämlich überwiegend im Interesse reformunwilliger Regierungen und des französischen Präsidenten, der unmittelbar vor der Parlamentswahl keinen unangenehmen Querschuss gebrauchen kann. Der Präsident der EZB, Mario Draghi, hat erneut die monetäre Akkomodierung gerechtfertigt und beteuert, dass die EZB die Geldschleusen wie geplant bis mindestens zum Jahresende offenhalten wird. Soweit ist gestern alles so gelaufen wie erwartet.

Etwas unerwartet hingegen ist eine Änderung der Wortwahl, die weitere Zinssenkungen dieses Mal nicht als Option nannte. Darüber hinaus werden die Wachstumsrisiken der europäischen Wirtschaft als ausgeglichen bezeichnet. Hat die Wahl des Tagungsorts eventuell die Haltung des EZB-Rates geprägt? Estland steht nicht für laxe Geld- und Fiskalpolitik oder überbordende Staatsschulden; allerdings gilt das auch für Frankfurt bzw. Deutschland als Ort der meisten Sitzungen des Rates – und die Ergebnisse sind hinlänglich bekannt.

Unabhängig vom Ort der Sitzung wird dieses Ergebnis von Volkswirten als ein Zeichen dafür gewertet, dass die EZB sich inzwischen ernsthaft mit dem Ausstieg aus der Niedrigzinsphase befasst. Allerdings wird vermutet, dass dieser Ausstieg frühestens in zwei Jahren erfolgen wird. So äußerst sich die Bank auf jeden Fall selber. Diese Vermutung ist mithin plausibel.

Es kann aber nicht als sicher gelten, dass die EZB tatsächlich solange warten wird, wie die folgenden – natürlich höchst spekulativen – Überlegungen zeigen. Denn nach der französischen Parlamentswahl im Juni könnte der Druck auf die EZB, die Zinsen niedrig zu halten, sinken. Dies gelte vor allem, wenn die Bewegung von Präsident Emanuel Macron tatsächlich die Mehrheit der Sitze gewinnen könnte.

Weiterhin wäre es dann attraktiv, den Leitzins zu erhöhen, wenn die Inflationsrate während der Sommerferien in Deutschland, also ab dem 24. Juni für einige Zeit weiter steigt und die 2-Prozent-Marke zumindest ins Visier nimmt. Dies ist auf jeden Fall denkbar, denn es ist durchaus üblich, dass die Benzinpreise während der Reisezeit höher als im Durchschnitt des übrigen Jahres sind. Wenn also es also Anfang Juli zu einem recht scharfen Preisanstieg käme, könnte die Inflationsrate im Juli steigen, was im August dann bekannt würde.

Höchste Zeit für die Zinswende

Mit Blick auf die Bundestagswahl am 24. September dieses Jahres – aber selbstverständlich, ohne diese als Begründung zu nennen – könnte die EZB dann das Erreichen der Ziel-Inflationsrate zum Anlass nehmen, den Leitzins ganz leicht, zum Beispiel um fünf oder zehn Punkte anzuheben, sodass es zum ersten Mal seit März 2016 wieder einen positiven Leitzins gäbe. Damit könnte die EZB etwas für die amtierende Bundesregierung tun und die nach wie vor besorgte Öffentlichkeit in Deutschland unmittelbar vor dem Urnengang beruhigen. Kritische Stimmen wären danach zunächst unglaubwürdiger. Die EZB hätte erst einmal Ruhe vor der deutschen Öffentlichkeit.

Ob dieses Szenario realistisch ist, wissen wir in drei Monaten. Dass es keine gute Strategie bedeutet, wissen wir jetzt. Allein dass Beobachter der EZB immer wieder politisches Taktieren unterstellen – wie in dieser Kolumne –, ist ein schlechtes Zeichen. Denn es ist eigentlich nicht die Zuständigkeit der EZB, nationale Wahltermine oder politische Stimmungen aufzugreifen. Ihre Aufgabe ist die inflationsfreie Geldversorgung. Darunter muss auch, selbst wenn es nicht im Mandat explizit steht, die Vermögenspreisentwicklung gefasst werden. Denn die aufgeblähte Zentralbankgeldmenge fließt ja nicht hauptsächlich in Neuinvestitionen, sondern in den Vermögensbestand und sorgt so für die sogenannte „Asset-Price-Inflation“ mit vielen negativen Folgen für die längere Frist.

Vor diesem Hintergrund darf auch die Kritik an der laxen Geldpolitik nicht verstummen. Weder droht gegenwärtig Deflation noch leidet die Eurozone unter einer Rezession. Nach wie vor sind die Probleme vieler Mitgliedsländer der Europäischen Währungsunion (EWU) struktureller Natur und nicht mit mehr Geld oder dem Nullzins zu lösen. Was Konjunktur angeht, so droht in einigen EWU-Mitgliedern eher eine Überhitzung als eine Rezession. Es wäre also längst an der Zeit, den Leitzins wieder zu erhöhen und den Einlagenzins aus dem Negativbereich zu holen. Auch wenn die Signale aus Tallinn, ermutigend sind: Anlass zur Zufriedenheit ist nicht gegeben. Es wird höchste Zeit für die Zinswende.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%