Die ideale Strategie nicht nur aus wirtschaftspolitischer Perspektive ist es ohnehin, die Brexit-Verhandlungen als Anlass dafür zu nehmen, auch die EU-Verträge neu zu verhandeln. Denn es gibt genug Unwuchten in der europäischen Integration, worauf Kommissionspräsident Juncker in seinem insgesamt fünf Szenarien umfassenden Weißbuch hingewiesen hat. Es wäre also ein idealer Zeitpunkt, über diese Szenarien zu diskutieren – möglichst ergebnisoffen. Gerade aus deutscher Sicht werden solche Verhandlungen von Bedeutung sein, verlieren wir doch mit Großbritannien einen Fürsprecher für offene Märkte und freien Handel, worauf Hans-Werner Sinn sehr deutlich hingewiesen hat. Die Bundesregierung sollte mithin darauf unbedingt insistieren. Hier geht es nicht nur um Geld oder um Exporte. Es geht vermutlich um die Existenz der EU.
Denn die Menschen in Europa, so auch in Deutschland werden genau hinschauen, wie sich die EU entwickelt. Sollte sich der Brexit so auswirken, dass anschließend die Beziehungen in der EU sich zu Lasten eines oder mehrerer der verbleibenden Mitgliedsländer verändern, können weitere Absetzbewegungen nicht ausgeschlossen werden. Wird es also beispielsweise Versuche geben, eine Transferunion zugunsten des sogenannten Südens der EU und zu Lasten der nördlichen Länder geben, könnten in Finnland oder Österreich die Stimmen lauter werden, die EU ebenfalls zu verlassen. Das kann niemand wollen (genauso wenig, wie es rational ist, dass die Briten den Europäischen Binnenmarkt verlassen).
Der Brexit-Fahrplan
Laut Barnier sollen bis Oktober 2018 die Details für den Austritt Großbritanniens ausverhandelt sein. Der Franzose hat diesen Zeitplan bereits als sehr ambitioniert bezeichnet. Andere Experten halten ihn angesichts der Fülle der Problemfelder für unmöglich. Womöglich wird es deshalb zahlreiche Übergangsfristen von etwa zwei bis fünf Jahren geben.
Die schottische Regierung will im Herbst 2018 ein zweites Referendum über den Verbleib im Vereinigten Königreich abhalten, sobald die Bedingungen für den Brexit klar sind. May hat dies abgelehnt.
Bis März 2019 wäre dann Zeit, damit Mitgliedsländer und EU-Parlament die Vereinbarung ratifizieren. Der Tag des Austritts Großbritanniens aus der EU wäre dann Samstag, der 30. März.
Unklar ist, wann die umfassenderen Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU abgeschlossen sind. May strebt ein Freihandelsabkommen mit der EU innerhalb weniger Jahre an, über das schon parallel zum Brexit verhandelt werden soll. Dagegen verweist die EU-Kommission auf die Erfahrung aus anderen Abkommen wie etwa mit Kanada (Ceta), über das sechs Jahre lang verhandelt wurde. Im Ceta-Vertrag sind allerdings keine Vereinbarungen über den komplexen Bereich der Finanzdienstleistungen enthalten, die für Großbritannien und den Finanzplatz London von enormer Bedeutung sind.
Wenn es hingegen gelingt, die europäische Integration von ihrer Einbahnstraße zur „Ever closer Union“ zu einem offenen Prozess mit mehreren Geschwindigkeiten umzubauen und nur den Binnenmarkt – mit oder ohne Freizügigkeit – zum Kern zu machen sowie einige Umverteilungsprogramme ohne großen Nutzen zum Beispiel in der Regionalpolitik auslaufen zu lassen oder wenigstens umzubauen, könnte sogar die britische Öffentlichkeit am Ende einem Verbleib in der nun aus ihrer Sicht deutlich abgespeckten EU zustimmen. Dann wäre der 29. März 2017 kein trauriger Tag, sondern markierte die nächste Stufe der europäischen Integration.