Freytags-Frage

Welche Chancen bietet der Brexit?

Die Europäer haben zwei Möglichkeiten: Die Briten bestrafen, dass sie die EU verlassen oder die Staatengemeinschaft reformieren. Denn der Brexit ist auch eine Chance. Die Frage ist nur, ob die Europäer sie ergreifen.

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Die Briten verlassen die EU. Die Frage ist, ob sich die Europäer neu erfinden. Quelle: AP

Das Vereinigte Königreich verabschiedet sich. Am Mittwoch stellte die britische Regierung den Antrag, die Austrittsverhandlungen aus der Europäischen Union nach Artikel 50 des Vertrages von Lissabon zu beginnen. Bis März 2019 müssen die Verhandlungen abgeschlossen sein, ansonsten gibt es höchstwahrscheinlich eine Scheidung ohne Vertrag.

Es wird viel über die Gewinner und Verlierer des Brexit spekuliert. Sicherlich wird es auch bald seriöse Schätzungen darüber geben, welche ökonomischen Effekte der Prozess der Desintegration für wen haben wird. Es wäre natürlich besser gewesen, hätte die britische Regierung oder auch die Europäische Kommission von vornherein eine Ahnung davon gehabt. Aber unabhängig davon sollten sich die Verhandlungsführer darüber bewusst sein, dass es sich beim Brexit nicht um Wirtshausschlägerei handelt, sondern darum einen für alle Seiten möglichst vorteilhaften Vertrag auszuhandeln.

Dass das nicht einfach ist, zeigten bereits die ersten Reaktionen der europäischen Politiker, allen voran des damaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz und von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, die am Tag nach der Abstimmung im Juni 2016 ob der britischen Frechheit, die EU abzulehnen, geradezu wütend reagierten und schwere Strafen androhten. Auch die jüngst vorgetragene Forderung von 60 Milliarden „Austrittspreis“ ist kein Zeichen der Friedfertigkeit, ebenso wie die gewagte These der britischen Premierministerin Theresa May, dass kein Deal besser sei als ein schlechter Deal. Das klingt mehr nach Trump als nach Thatcher.

Worum geht es? Der Austritt Großbritanniens aus der EU wird die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Vereinigten Königreich und der EU verändern. So wird es beispielsweise keine europäische Strukturpolitik in den strukturschwachen Regionen in Wales mehr geben, an europäischen Forschungsprojekten nehmen nicht mehr quasi automatisch britische Universitäten oder Unternehmen teil, und der Binnenmarkt muss neu verhandelt werden. Trotzdem bleibt Großbritannien, wo es ist. Es gehört weiterhin zu Europa, die Handelsströme sowie London als ein wichtiger Finanzplatz werden weiterhin bedeutsam sein. Und England wird weiterhin die wichtigen Fußballspiele gegen Deutschland verlieren. Man sollte also nicht das Ende der britisch-europäischen Beziehungen herbeireden. Es wird sich vermutlich weniger ändern, als wir heute glauben.

Welche deutschen Branchen der Brexit treffen könnte

Vor diesem Hintergrund ist es sehr wichtig, sich über die Bedeutung des Verhandlungsstils für die zukünftigen Beziehungen der EU zu Großbritannien, aber auch der Beziehungen innerhalb der EU im Klaren zu sein. Denn der Stil der Verhandlungen kann auch als Signal für andere potentielle Austrittskandidaten gewertet darüber werden, wie die EU mit abweichenden Vorstellungen umgeht. Deshalb nützt ein halbstarker, auf Drohgebärden setzender Verhandlungsstil niemandem. Natürlich haben sowohl Briten als auch die 27 EU-Mitglieder eigene, divergierende Interessen. Die sollten hart in der Sache, aber mit einem hohen Maß an Kompromissbereitschaft und – natürlich – konziliant im Umgang vertreten werden.

Weitere EU-Austritte sind möglich

Die ideale Strategie nicht nur aus wirtschaftspolitischer Perspektive ist es ohnehin, die Brexit-Verhandlungen als Anlass dafür zu nehmen, auch die EU-Verträge neu zu verhandeln. Denn es gibt genug Unwuchten in der europäischen Integration, worauf Kommissionspräsident Juncker in seinem insgesamt fünf Szenarien umfassenden Weißbuch hingewiesen hat. Es wäre also ein idealer Zeitpunkt, über diese Szenarien zu diskutieren – möglichst ergebnisoffen. Gerade aus deutscher Sicht werden solche Verhandlungen von Bedeutung sein, verlieren wir doch mit Großbritannien einen Fürsprecher für offene Märkte und freien Handel, worauf Hans-Werner Sinn sehr deutlich hingewiesen hat. Die Bundesregierung sollte mithin darauf unbedingt insistieren. Hier geht es nicht nur um Geld oder um Exporte. Es geht vermutlich um die Existenz der EU.


Denn die Menschen in Europa, so auch in Deutschland werden genau hinschauen, wie sich die EU entwickelt. Sollte sich der Brexit so auswirken, dass anschließend die Beziehungen in der EU sich zu Lasten eines oder mehrerer der verbleibenden Mitgliedsländer verändern, können weitere Absetzbewegungen nicht ausgeschlossen werden. Wird es also beispielsweise Versuche geben, eine Transferunion zugunsten des sogenannten Südens der EU und zu Lasten der nördlichen Länder geben, könnten in Finnland oder Österreich die Stimmen lauter werden, die EU ebenfalls zu verlassen. Das kann niemand wollen (genauso wenig, wie es rational ist, dass die Briten den Europäischen Binnenmarkt verlassen).

Der Brexit-Fahrplan

Wenn es hingegen gelingt, die europäische Integration von ihrer Einbahnstraße zur „Ever closer Union“ zu einem offenen Prozess mit mehreren Geschwindigkeiten umzubauen und nur den Binnenmarkt – mit oder ohne Freizügigkeit – zum Kern zu machen sowie einige Umverteilungsprogramme ohne großen Nutzen zum Beispiel in der Regionalpolitik auslaufen zu lassen oder wenigstens umzubauen, könnte sogar die britische Öffentlichkeit am Ende einem Verbleib in der nun aus ihrer Sicht deutlich abgespeckten EU zustimmen. Dann wäre der 29. März 2017 kein trauriger Tag, sondern markierte die nächste Stufe der europäischen Integration.

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