Das abgelaufene Jahr wird mit Sicherheit nicht als ein Glanzlicht in die europäische Geschichte eingehen, eher als Annus horribilis. Zu viele Probleme gibt es weltweit, zu stark wirken sich diese auf Europa aus, zu sehr haben sich die Länder Europas und innerhalb der Länder die Regierungen und Menschen voneinander entfremdet.
Diese Probleme im Zusammenspiel gefährden den Wohlstand, aber mehr noch die Demokratie in Europa. Denn sie rütteln an den Grundfesten gemeinsamer Wertvorstellungen.
Dabei hat sich der Kontinent im Zuge der europäischen Integration grandios entwickelt; man kann zu Recht davon sprechen, dass die Europäische Union (EU) eine offene Gesellschaft geworden ist. Die Menschen sind frei, selber zu entscheiden, was gut und was schlecht für sie ist. Sie nehmen aktiv an der Willensbildung teil (durch Diskussionen und Wahlen), sie sind tolerant und akzeptieren andere Lebensformen. Mittelpunkt ist nicht mehr die Sippe, der Clan, sondern in vielen Fällen die Nation, in anderen die Gemeinschaft Gleicher und Freier in Europa.
Ein wichtiges Element einer offenen Gesellschaft ist die Anonymisierung der Hilfe durch den Wohlfahrtstaat. Solidarität wird nicht dadurch gebremst, dass sich die Beteiligten nicht kennen. Der moderne Wohlfahrtstaat ist im Grunde ein Vertrag unter Gleichen und Freien. Es gibt Bürger und keine Untertanen. Nächstenliebe, Familiensinn und Freundschaften entwickeln sich trotzdem in der offenen Gesellschaft. Nicht zuletzt deshalb ist das Vertrauen zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft in der Regel höher als in totalitären Gesellschaften; dies ist das Ergebnis zahlreicher empirischer Studien.
Die offene Gesellschaft ist aber immer unter Druck, die dort existierende Freiheit muss ständig verteidigt werden. Dies hat mehrere Gründe:
Erstens ist Freiheit anstrengend, denn sie funktioniert nur mit der Bereitschaft jeder und jedes Einzelnen, für sich selber Verantwortung zu übernehmen. Das scheint viele zu überfordern, weswegen viele nach staatlicher Hilfe rufen. Je schlechter es den Menschen geht, desto eher sind sie bereit, Freiheit gegen Sicherheit herzugeben. Sie bilden sozusagen ungewollt das Einfallstor für die Gegner der offenen Gesellschaft.
Dieser Ruf nach Hilfe wird zweitens von politischen Akteuren nur zu gerne aufgegriffen. Sie sind ständig versucht, in die Freiheit der Menschen einzugreifen, offiziell nur zu deren Bestem. Ein bekanntes Stichwort in diesem Zusammenhang ist Nudging, also der libertäre Paternalismus. Diese Versuchung ist selbst für Demokraten groß, man denke nur an den Veggie-Day der Grünen. Eingriffe in die Märkte zum Schutz bestimmter Akteure sind eine weitere Spielart dieser Bereitschaft, die Freiheit der anderen einzuschränken. Auch sie steigt mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage.
Mitglieder nicht-demokratischer Parteien und Organisationen haben drittens keine Scheu, ihren Machthunger und ihre Intoleranz anderen, Fremden gegenüber auszudrücken und die Freiheit anderer zu unterdrücken, wenn sie die Macht dazu haben. Sie sind die expliziten Feinde der offenen Gesellschaft und eines liberalen und weltoffenen Bürgertums. Man findet sie innerhalb (zum Beispiel Front National, Pegida, Attac) und außerhalb (zum Beispiel Daesh) der Gesellschaft.
Schließlich zeigen sich in Krisensituationen wie der gegenwärtigen der Flüchtlingskrise auch bei Mitgliedern des sogenannten Bürgertums Verhaltensweisen, die mit Liberalismus und Toleranz nichts gemein haben. Dumpf wird eine Volksgemeinschaft beschworen, Anderssein als minderwertig und bedrohend empfunden. Als Konsequenz werden „starke Männer“, also Politikertypen mit schnellen und einfachen Lösungen, die das „wir gegen die“ zur Kernaussage machen, beschworen (und zum Teil gewählt). Äußere Bedrohungen sind immer wieder von totalitären Politikern genutzt worden, die Freiheit des Individuums einzuschränken. Dies droht auch in 2016.
Wie konnte die offene Gesellschaft in Europa so unter Druck geraten, wie es 2015 geschehen ist?
Die Antwort darauf findet sich vor allem in der langanhaltenden Doppel-Krise in der EU, in deren Verlauf seit nunmehr über sieben Jahren in vielen Mitgliedsländern zunächst die Banken in eine ernste Schieflage gerieten und teuer gerettet werden mussten, bevor dann offenbar wurde, dass auch die Staatsfinanzen in der EU nachhaltig zerrüttet sind. Steigende Arbeitslosigkeit war die Folge. Durch den Zustrom von Flüchtlingen wird die Ausgangslage zur Erholung naturgemäß nicht einfacher.
Totalisierung der europäischen Gesellschaften
Die wirtschaftspolitische Antwort auf die Krise sorgte in der Konsequenz für eine absolute und mehr noch relative Zunahme der staatlichen Wirtschaftstätigkeit, die systematische Beugung europäischen Rechts durch den Europäischen Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission (no-bail out!?) sowie eine Verschiebung der Zuständigkeiten mit der Folge, dass die Geldpolitik nun weitaus mehr Aufgaben zu erledigen hat als vor der Krise. Ein Grundpfeiler einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung, nämlich die Geldwertstabilität, ist damit gefährdet, auch wenn es im Moment nicht so aussieht.
Mehr Staat, weniger private Wirtschaftstätigkeit und Enteignung der Mittelschicht als Ergebnis der Geldpolitik in Verbindung mit dumpfen Ressentiments gegen Fremde stellen in der Tat eine ernsthafte Bedrohung der offenen Gesellschaft dar. In Polen und Ungarn, zwei Ländern mit freiheitsliebenden und toleranten Bürgern, sind die Regierungen gerade dabei, totalitäre Strukturen einzuziehen. In Frankreich gewinnt der wenig offenen und liberale Front National bei jeder Wahl hinzu.
Es ist also Zeit, sich Sorgen zu machen beziehungsweise darüber nachzudenken, was politisch gegen diese Totalisierung der europäischen Gesellschaften zu tun ist.
Eine offene Gesellschaft muss in erster Linie in offener Weise mit Gegenströmungen umgehen. Moralisieren und Ausgrenzungen zum Beispiel von Pegida-Anhängern ist das falsche Rezept. Vielmehr müssen der Dialog, die verbale und friedliche Auseinandersetzung gesucht und Überzeugungsarbeit für Offenheit und Toleranz geleistet werden. Die Argumente sind stark, sie dürfen nicht künstlich schwachgeredet werden.
Auf europäischer Ebene ist ein Innehalten und Nachdenken nötig. Nicht jeder Integrationsschritt ist ein echter Fortschritt. Gefragt sind vermutlich innovative Integrationsformen (zum Beispiel ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten, die Aufspaltung der Währungsunion und ähnliches). Nichts sollte sakrosankt sein (mit Ausnahme des Binnenmarktes). Der Unzufriedenheit der Bürger mit der EU beziehungsweise deren Organisationen darf nicht mit Arroganz begegnet werden, wie es in der Vergangenheit oft der Fall war. Die Auseinandersetzung mit der britischen Regierung und dem drohenden Brexit bietet dafür eine gute Ausgangsposition. Eine Neuorganisation der EU muss allerdings mit erbittertem Widerstand der „überzeugten Europäer“ rechnen, zu viel steht für sie auf dem Spiel.
Parallel dazu müssen die Regierungen der schleichenden Verstaatlichung der wirtschaftlichen Tätigkeiten ein Ende bereiten. Sie müssen die nötigen Reformschritte einleiten, um wieder mehr private Investitionen anzuziehen. Das mag staatliche Investitionen in Infrastruktur beinhalten, meint aber zuvorderst Deregulierung, Verwaltungsreformen, Steuerreform, Wiederherstellen der Zinsfunktion und vieles mehr. Natürlich muss nicht alles in jedem Mitgliedsland umgesetzt werden, aber der gegenwärtige – durch Niedrigzins erst ermöglichte beziehungsweise unterstützte – Attentismus ist völlig falsch.
Zusammengefasst ist es nicht zielführend, als Antwort auf die multiplen Krisen die Bürgerrechte weiter einzuschränken, die Wirtschaft noch mehr zu verstaatlichen beziehungsweise noch stärker und detaillierter in die Märkte einzugreifen und ein einfaches „Immer weiter“ in der EU zu betreiben.
Das Gegenteil ist richtig. Die offene Gesellschaft begegnet ihren Herausforderern am besten mit Offenheit und Selbstbewusstsein; dazu gehört auch, Fehler zu korrigieren. Das hat natürlich Kosten, die manchmal unerträglich scheinen. Die mit der Aufgabe der Freiheit und der Selbstbestimmung der Menschen verbundenen Kosten sind aber deutlich höher.