Freytags-Frage

Wie können wir die offene Gesellschaft in Europa bewahren?

2015 war für Europa kein gutes Jahr. Der Wohlstand ist in Gefahr, die offene Gesellschaft steht unter Druck. Ihre Freiheit muss verteidigt werden. Eine Kolumne.

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Europäische Union Quelle: dpa

Das abgelaufene Jahr wird mit Sicherheit nicht als ein Glanzlicht in die europäische Geschichte eingehen, eher als Annus horribilis. Zu viele Probleme gibt es weltweit, zu stark wirken sich diese auf Europa aus, zu sehr haben sich die Länder Europas und innerhalb der Länder die Regierungen und Menschen voneinander entfremdet.

Diese Probleme im Zusammenspiel gefährden den Wohlstand, aber mehr noch die Demokratie in Europa. Denn sie rütteln an den Grundfesten gemeinsamer Wertvorstellungen.

Dabei hat sich der Kontinent im Zuge der europäischen Integration grandios entwickelt; man kann zu Recht davon sprechen, dass die Europäische Union (EU) eine offene Gesellschaft geworden ist. Die Menschen sind frei, selber zu entscheiden, was gut und was schlecht für sie ist. Sie nehmen aktiv an der Willensbildung teil (durch Diskussionen und Wahlen), sie sind tolerant und akzeptieren andere Lebensformen. Mittelpunkt ist nicht mehr die Sippe, der Clan, sondern in vielen Fällen die Nation, in anderen die Gemeinschaft Gleicher und Freier in Europa.

Bewegende Momente in der Politik 2015
Markus Nierths Quelle: dpa
Ausschwitz-Überlebende reicht früherem SS-Mann die HandIm Lüneburger Auschwitz-Prozess kommt es im April zu einer ungewöhnlichen Geste: Eine Überlebende des Konzentrationslagers reicht dem angeklagten früheren SS-Mann Oskar Gröning die Hand zur Versöhnung. „Ich habe den Nazis vergeben“, sagt Eva Kor. Die 81-Jährige hat mit ihrer Zwillingsschwester grausame medizinische Experimente in Auschwitz überlebt, die übrigen Familienmitglieder starben dort. Kor sagt vor Gericht auch: „Meine Vergebung spricht die Täter nicht frei.“ Wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen wird Gröning zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Er bekennt sich zu seiner moralischen Mitschuld. In Auschwitz ermordete das nationalsozialistische Regime im Zweiten Weltkrieg mehr als eine Million Menschen, weit überwiegend Juden. Quelle: dpa
Hilfloser Lucke, lächelnde PetryRechte Stammtischparolen und Buh-Rufe machen den Parteitag der Alternative für Deutschland Anfang Juli in Essen zu einem etwas schrillen Spektakel. Parteigründer Bernd Lucke muss hilflos zusehen, wie seine Rivalin Frauke Petry kalt lächelnd an ihm vorbeizieht. Ihr neuer Lebensgefährte, der AfD-Landesvorsitzende Marcus Pretzell, erntet stürmischen Applaus, als er sagt, die AfD sei eben auch eine „Pegida-Partei“. Zum Schluss steht kein Stein mehr auf dem anderen. Lucke und seine Mitstreiter aus dem wirtschaftsliberalen Flügel empören sich über den „Rechtsruck“ der Partei. Sie verlassen die AfD und gründen die Partei Alfa. Quelle: dpa
Merkel und das weinende FlüchtlingsmädchenBundeskanzlerin Angela Merkel erlebt Mitte Juli in Rostock, was passiert, wenn Politik auf Individuen trifft. Bei einem „Bürgerdialog“ in einer Schule trifft sie das Flüchtlingsmädchen Reem. Merkel erklärt, dass Deutschland nicht alle Asylbewerber aufnehmen kann. Daraufhin bricht die 14-Jährige in Tränen aus. „Ach komm“, sagt Merkel und will Reem trösten. Dabei wirkt Merkel unbeholfen. „Du hast das doch prima gemacht“, sagt sie, was der Moderator mit einer spitzen Bemerkung quittiert. „Ich weiß, dass das eine belastende Situation ist - aber trotzdem möchte ich sie einmal streicheln“, herrscht die Kanzlerin den Mann an. Im Netz wird die Kanzlerin als eiskalt beschimpft. Doch „streicheln“ ist ein ungewöhnliches Wort für eine Frau, die als eiskalt gilt. Quelle: dpa
Flüchtlinge dürfen kommenFlüchtlinge werden in Ungarn schlecht versorgt, sie wollen nach Österreich oder Deutschland. Bundeskanzlerin Angela Merkel befürchtet, dass es zu einer Tragödie kommt, wenn die ungarische Polizei mit den Tausenden, zum Teil verzweifelten Menschen nicht mehr zurechtkommt. Gemeinsam mit dem österreichischen Kanzler Werner Faymann entscheidet sie am 5. September: Deutschland und Österreich nehmen in Absprache mit der ungarischen Regierung über eine Ausnahmeregelung Flüchtlinge auf. Demnach dürfen sie ohne bürokratische Hürden und Kontrollen einreisen. Bei ihrer Ankunft in Deutschland werden sie von vielen Bürgern bejubelt, Freudentränen fließen. CSU-Chef Horst Seehofer fühlt sich übergangen und warnt vor Überforderung. Quelle: dpa
Eine erfundene Zeugin im NSU-ProzessNach zweieinhalb Jahren und mehr als 230 Verhandlungstagen bemerkt Ralph Willms, Nebenklage-Anwalt im Münchner NSU-Prozess, dass er Opfer einer Täuschung geworden ist. Am 2. Oktober stellt sich heraus, dass die Nebenklägerin „Meral Keskin“ erfunden ist. Das Gericht hatte sie als vermeintliches Opfer des Bombenanschlags an der Kölner Keupstraße zum NSU-Prozess zugelassen. Dass „Keskin“ tatsächlich gar nicht existiert, fiel erst auf, als das Gericht sie mehrfach vergeblich als Zeugin geladen hatte. Hauptangeklagte im NSU-Prozess ist die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe. Die Bundesanwaltschaft wirft ihr Mittäterschaft bei zehn Morden und zwei Sprengstoffanschlägen vor. Quelle: dpa
Messerattacke gegen Henriette Reker in KölnEin Attentat schockt das Land: In Köln sticht am 17. Oktober ein 44-Jähriger die parteilose OB-Kandidatin Henriette Reker an einem Wahlkampfstand nieder. Die 58-Jährige geht mit einer schweren Verletzung am Hals zu Boden, eine Notoperation rettet ihr Leben. Am Tag nach dem wohl fremdenfeindlich motivierten Anschlag wählen die Kölner die bisherige - auch für Flüchtlingspolitik zuständige - Sozialdezernentin mit 52,7 Prozent zur Oberbürgermeisterin der viertgrößten deutschen Stadt. Reker - zunächst im künstlichen Koma - nimmt die Wahl am 22. Oktober am Krankenbett an. Am 20. November tritt sie ihr Amt an und stellt klar: Sie lässt sich nicht einschüchtern. Quelle: dpa

Ein wichtiges Element einer offenen Gesellschaft ist die Anonymisierung der Hilfe durch den Wohlfahrtstaat. Solidarität wird nicht dadurch gebremst, dass sich die Beteiligten nicht kennen. Der moderne Wohlfahrtstaat ist im Grunde ein Vertrag unter Gleichen und Freien. Es gibt Bürger und keine Untertanen. Nächstenliebe, Familiensinn und Freundschaften entwickeln sich trotzdem in der offenen Gesellschaft. Nicht zuletzt deshalb ist das Vertrauen zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft in der Regel höher als in totalitären Gesellschaften; dies ist das Ergebnis zahlreicher empirischer Studien.

Die offene Gesellschaft ist aber immer unter Druck, die dort existierende Freiheit muss ständig verteidigt werden. Dies hat mehrere Gründe:

  • Erstens ist Freiheit anstrengend, denn sie funktioniert nur mit der Bereitschaft jeder und jedes Einzelnen, für sich selber Verantwortung zu übernehmen. Das scheint viele zu überfordern, weswegen viele nach staatlicher Hilfe rufen. Je schlechter es den Menschen geht, desto eher sind sie bereit, Freiheit gegen Sicherheit herzugeben. Sie bilden sozusagen ungewollt das Einfallstor für die Gegner der offenen Gesellschaft.

  • Dieser Ruf nach Hilfe wird zweitens von politischen Akteuren nur zu gerne aufgegriffen. Sie sind ständig versucht, in die Freiheit der Menschen einzugreifen, offiziell nur zu deren Bestem. Ein bekanntes Stichwort in diesem Zusammenhang ist Nudging, also der libertäre Paternalismus. Diese Versuchung ist selbst für Demokraten groß, man denke nur an den Veggie-Day der Grünen. Eingriffe in die Märkte zum Schutz bestimmter Akteure sind eine weitere Spielart dieser Bereitschaft, die Freiheit der anderen einzuschränken. Auch sie steigt mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage.

  • Mitglieder nicht-demokratischer Parteien und Organisationen haben drittens keine Scheu, ihren Machthunger und ihre Intoleranz anderen, Fremden gegenüber auszudrücken und die Freiheit anderer zu unterdrücken, wenn sie die Macht dazu haben. Sie sind die expliziten Feinde der offenen Gesellschaft und eines liberalen und weltoffenen Bürgertums. Man findet sie innerhalb (zum Beispiel Front National, Pegida, Attac) und außerhalb (zum Beispiel Daesh) der Gesellschaft.

  • Schließlich zeigen sich in Krisensituationen wie der gegenwärtigen der Flüchtlingskrise auch bei Mitgliedern des sogenannten Bürgertums Verhaltensweisen, die mit Liberalismus und Toleranz nichts gemein haben. Dumpf wird eine Volksgemeinschaft beschworen, Anderssein als minderwertig und bedrohend empfunden. Als Konsequenz werden „starke Männer“, also Politikertypen mit schnellen und einfachen Lösungen, die das „wir gegen die“ zur Kernaussage machen, beschworen (und zum Teil gewählt). Äußere Bedrohungen sind immer wieder von totalitären Politikern genutzt worden, die Freiheit des Individuums einzuschränken. Dies droht auch in 2016.

Wie konnte die offene Gesellschaft in Europa so unter Druck geraten, wie es 2015 geschehen ist?

Die Antwort darauf findet sich vor allem in der langanhaltenden Doppel-Krise in der EU, in deren Verlauf seit nunmehr über sieben Jahren in vielen Mitgliedsländern zunächst die Banken in eine ernste Schieflage gerieten und teuer gerettet werden mussten, bevor dann offenbar wurde, dass auch die Staatsfinanzen in der EU nachhaltig zerrüttet sind. Steigende Arbeitslosigkeit war die Folge. Durch den Zustrom von Flüchtlingen wird die Ausgangslage zur Erholung naturgemäß nicht einfacher.

Totalisierung der europäischen Gesellschaften

Die wirtschaftspolitische Antwort auf die Krise sorgte in der Konsequenz für eine absolute und mehr noch relative Zunahme der staatlichen Wirtschaftstätigkeit, die systematische Beugung europäischen Rechts durch den Europäischen Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission (no-bail out!?) sowie eine Verschiebung der Zuständigkeiten mit der Folge, dass die Geldpolitik nun weitaus mehr Aufgaben zu erledigen hat als vor der Krise. Ein Grundpfeiler einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung, nämlich die Geldwertstabilität, ist damit gefährdet, auch wenn es im Moment nicht so aussieht.

Mehr Staat, weniger private Wirtschaftstätigkeit und Enteignung der Mittelschicht als Ergebnis der Geldpolitik in Verbindung mit dumpfen Ressentiments gegen Fremde stellen in der Tat eine ernsthafte Bedrohung der offenen Gesellschaft dar. In Polen und Ungarn, zwei Ländern mit freiheitsliebenden und toleranten Bürgern, sind die Regierungen gerade dabei, totalitäre Strukturen einzuziehen. In Frankreich gewinnt der wenig offenen und liberale Front National bei jeder Wahl hinzu.

Die Verlierer des Jahres 2015
Otto Pérez Molina (65) Quelle: dpa
Staffan de Mistura Quelle: dpa
Silvio Berlusconi Quelle: dpa
König Salman und Angela Merkel Quelle: dpa
Tony Abbott Quelle: AP
Ignazio Marino Quelle: AP
Dilma Rousseff Quelle: dpa

Es ist also Zeit, sich Sorgen zu machen beziehungsweise darüber nachzudenken, was politisch gegen diese Totalisierung der europäischen Gesellschaften zu tun ist.

  • Eine offene Gesellschaft muss in erster Linie in offener Weise mit Gegenströmungen umgehen. Moralisieren und Ausgrenzungen zum Beispiel von Pegida-Anhängern ist das falsche Rezept. Vielmehr müssen der Dialog, die verbale und friedliche Auseinandersetzung gesucht und Überzeugungsarbeit für Offenheit und Toleranz geleistet werden. Die Argumente sind stark, sie dürfen nicht künstlich schwachgeredet werden.

  • Auf europäischer Ebene ist ein Innehalten und Nachdenken nötig. Nicht jeder Integrationsschritt ist ein echter Fortschritt. Gefragt sind vermutlich innovative Integrationsformen (zum Beispiel ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten, die Aufspaltung der Währungsunion und ähnliches). Nichts sollte sakrosankt sein (mit Ausnahme des Binnenmarktes). Der Unzufriedenheit der Bürger mit der EU beziehungsweise deren Organisationen darf nicht mit Arroganz begegnet werden, wie es in der Vergangenheit oft der Fall war. Die Auseinandersetzung mit der britischen Regierung und dem drohenden Brexit bietet dafür eine gute Ausgangsposition. Eine Neuorganisation der EU muss allerdings mit erbittertem Widerstand der „überzeugten Europäer“ rechnen, zu viel steht für sie auf dem Spiel.

  • Parallel dazu müssen die Regierungen der schleichenden Verstaatlichung der wirtschaftlichen Tätigkeiten ein Ende bereiten. Sie müssen die nötigen Reformschritte einleiten, um wieder mehr private Investitionen anzuziehen. Das mag staatliche Investitionen in Infrastruktur beinhalten, meint aber zuvorderst Deregulierung, Verwaltungsreformen, Steuerreform, Wiederherstellen der Zinsfunktion und vieles mehr. Natürlich muss nicht alles in jedem Mitgliedsland umgesetzt werden, aber der gegenwärtige – durch Niedrigzins erst ermöglichte beziehungsweise unterstützte – Attentismus ist völlig falsch.

Zusammengefasst ist es nicht zielführend, als Antwort auf die multiplen Krisen die Bürgerrechte weiter einzuschränken, die Wirtschaft noch mehr zu verstaatlichen beziehungsweise noch stärker und detaillierter in die Märkte einzugreifen und ein einfaches „Immer weiter“ in der EU zu betreiben.

Das Gegenteil ist richtig. Die offene Gesellschaft begegnet ihren Herausforderern am besten mit Offenheit und Selbstbewusstsein; dazu gehört auch, Fehler zu korrigieren. Das hat natürlich Kosten, die manchmal unerträglich scheinen. Die mit der Aufgabe der Freiheit und der Selbstbestimmung der Menschen verbundenen Kosten sind aber deutlich höher.

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