Ihn umstritten zu nennen wäre eine Untertreibung. Kein Investor polarisiert wie George Soros, 85, geboren in Ungarn, reich geworden in den USA – und der Mann, der einst mit Spekulation gegen das britische Pfund über eine Milliarde an einem Tag verdiente. Soros selbst bezeichnet sich als Spekulanten, aber im positiven Sinne – als jemand, der Schwächen im System vorhersieht und aufdeckt. Milliarden hat er aber auch gespendet, vor allem zur Demokratieförderung, zu Zeiten, als ein Mark Zuckerberg noch in den Kindergarten ging.
Unumstritten ist bei ihm nur eins: Europa treibt ihn um. Soros hat den Holocaust überlebt, ist vor den Kommunisten geflohen. Angela Merkel hielt er vor, durch zu viel Strenge in der Euro-Krise die EU zu zerreißen. Aber ihre Willkommenskultur in der Flüchtlingsfrage begeistert ihn. „Ist das dieselbe Kanzlerin?“, fragt er zu Beginn des Treffens in Budapest. Gute Vorlage.
Zur Person
Soros, 86, wurde in Budapest geboren und überlebte die Nazi-Besatzung während des Zweiten Weltkriegs im Untergrund. Später emigrierte er in die USA, mit 500 Dollar und dem Traum, eine halbe Million zu verdienen, um dann Philosoph zu werden. Daraus sind rund 20 Milliarden Dollar geworden, aber Philosophie fördert er weiter. Die Idee einer offenen Gesellschaft im Sinne von Karl Popper leitet seine Stiftung.
WirtschaftsWoche: Herr Soros, „TIME“ hat Kanzlerin Angela Merkel gerade zur Person des Jahres ernannt. Das Magazin nannte sie „Kanzlerin der freien Welt“. Zu viel der Ehre?
George Soros: Natürlich nicht. Ich halte Merkels Sparpolitik in Europa nach wie vor für grundfalsch. Aber sie ist für mich schon länger die unangefochtene Anführerin Europas und damit indirekt der freien Welt – nämlich, seit sie im Ukrainekonflikt Russlands Präsident Wladimir Putin entschlossen entgegentrat. Zuvor hielt ich sie für eine begabte Politikerin, die auf Umfragewerte schaut. Aber im Verhältnis zu Russland war ihr die öffentliche Meinung auf einmal egal. Auch in der Flüchtlingskrise hat Merkel früh erkannt, dass die EU zerreißen könnte – indem erst die freien Grenzen des Schengen-Abkommens in Gefahr geraten und schließlich der freie Binnenmarkt.
Merkel galt als vorsichtig, nun ist sie plötzlich wild entschlossen. Viele Deutsche macht das nervös.
Diese wilde Entschlossenheit schätze ich ja gerade, vielleicht weil es mich selbst an meine Zeit als Investor erinnert. Klar, es gibt gerade viele Gründe, nervös zu werden. Die EU ist zwar krisenerprobt, Krisen haben sie in der Regel weitergebracht. Aber diesmal geht es nicht um eine Krise, sondern um fünf oder sechs, und zwar gleichzeitig.
Mal zählen: Griechenland und der Euro, Russland, Ukraine, der drohende Brexit, die Flüchtlingskrise... Eine vergessen?
Durchaus. Den Syrienkonflikt, der die Flüchtlingskrise mit ausgelöst hat. Auch sind Diskussionen zur Flüchtlingspolitik durch die Terrorattacken von Paris viel schwerer geworden. Und ob eine weitere Grundsatzkrise droht, hängt von den Deutschen ab.
Wie meinen Sie das?
Wenn jemand den Zerfall Europas aufhalten kann, dann die Deutschen. Sie sind in Merkels Kanzlerschaft zum Hegemon in Europa aufgestiegen, aber mussten dafür bislang nichts bezahlen, egal, wie laut manche Deutsche über Kredite an Griechenland schimpfen. Die Deutschen sind die klaren ökonomischen Gewinner der Währungsunion. Eigentlich müssen Hegemone sich aber nicht nur um ihre Interessen kümmern, sondern um auch die Interessen derer, die ihnen anvertraut sind. Ob Deutschland diese Verantwortung annehmen will – so wie Amerika nach 1945 –, muss es nun entscheiden.
Merkel könnte das die Kanzlerschaft kosten.
In der Flüchtlingskrise geht es ihr um Prinzipien, glaube ich, ihr scheint das Risiko durchaus klar.
Aus diesen Ländern kommen Asylbewerber in Deutschland
Fünf Prozent der Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl suchen, kommen aus Afghanistan.
Genauso viele (fünf Prozent) suchen aus dem Irak Zuflucht in Deutschland.
Aus Serbien im Balkan kommen sechs Prozent der Asylbewerber.
Aus Albanien kommen deutlich mehr Flüchtlinge, nämlich 15 Prozent.
Der gleiche Anteil (15 Prozent) sucht aus dem Kosovo Zuflucht in Deutschland.
Mit 22 Prozent ist der Anteil der syrischen Asylbewerber in Deutschland mit Abstand am größten.
Mich berührt ihr Handeln persönlich sehr. Ich habe den Krieg, den Holocaust und die Kommunisten überlebt, ich war selber Flüchtling. Ich habe Milliarden Dollar gespendet, um Europa in eine möglichst offene und weltoffene Gesellschaft zu verwandeln zu helfen, die einzigartig ist auf der Welt. Für mich kämpft Merkel nun auch dafür, vermutlich geprägt von ihrer eigenen Erfahrung als Kind eines Pastors und der Erfahrung der Unfreiheit in der DDR.
"Putin greift die EU von außen an, Orbán von innen"
Sie haben vor allem Demokratie in Osteuropa gefördert. Warum ist dort der Hass auf Flüchtlinge so groß?
Ungarns Premier Victor Orbán will Merkel die Führungsrolle in Europa streitig machen – und nebenbei Prinzipien unterminieren, für die Europa steht. Man muss sich das wie einen Zangenangriff vorstellen: Russlands Präsident Wladimir Putin greift die EU von außen an, Orbán von innen. Haben Sie gesehen, wie Orbán auf dem CSU-Parteitag gemeinsam mit Horst Seehofer Merkel attackierte?
Aber Orbán allein kann den Anstieg von Fremdenhass in Osteuropa nicht erklären.
Orbán ist ja nicht alleine. Jarosław Kaczyński, dessen Partei gerade die Wahl in Polen gewonnen hat, verfolgt einen sehr ähnlichen Ansatz. Polen gehört zu den ethnisch und religiös homogensten Ländern in Europa. Ein muslimischer Einwanderer steht im katholischen Polen für das „Andere“. Und Kaczyński hat diese „Anderen“ im Wahlkampf erfolgreich verteufelt.
Die EU erwägt Sanktionen gegen die Regierungen in Polen und Ungarn. Ist die Lage wirklich so ernst?
Beide befeuern einen Mix aus ethnischer und religiöser Ausgrenzung, um ihre Macht zu stärken. Mich erinnert dies an die Jahre zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, als Admiral Horthy in Ungarn und Marschall Piłsudski in Polen alle demokratischen Institutionen in ihre Hand zu bringen versuchten. Das peilen die neuen Regierungen jetzt wieder an.
Dabei ist Polen zuletzt ökonomisch und politisch eine der größten Erfolgsgeschichten Europas gewesen.
Viele dachten, es könne für Berlin ein ähnlich wichtiger Partner wie Frankreich werden – und auch ein Bollwerk gegen Putins Russland.
Länderprofil Polen
20,3 Dollar (2011, absolutes Bruttoinlandsprodukt geteilt durch BIP pro Person)
39 Millionen
520 Kilometer von Berlin
3,8 (BIP in Prozent)
170 Milliarden Dollar (2011)
199 Milliarden Dollar (2011)
0 (gemäß OECD-Klassifizierung: geringstes Risiko = 0 Punkte, höchstes Risiko = 7 Punkte)
54 Prozent
Das die EU von außen bedroht?
Interessanterweise waren bis vor rund einem Vierteljahrhundert die notleidende Sowjetunion und die aufstrebende EU beide moderne neue Modelle internationaler Regierungsform. Die Sowjetunion versuchte die Proletarier dieser Welt zu vereinen. Der EU ging es um friedliche Integration und Erweiterung nach den Prinzipien einer freien und offenen Gesellschaft.
Und beides ist nun Vergangenheit?
An die Stelle der Sowjetunion ist Putins Russland getreten, das wieder Weltmacht spielen will.
Fünf Folgen der Wirtschaftskrise in Russland
Das von den Einnahmen aus dem Geschäft mit Öl und Gas abhängige Russland steckt in einer Rezession. Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew erwartet einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um drei Prozent. Im Staatshaushalt klafft eine Finanzlücke.
Wegen des starken Ölpreisverfalls ist der Rubelkurs im vergangenen Jahr im Vergleich zum Dollar und Euro massiv eingebrochen. Den Höhepunkt erreichte der Wertverfall Mitte Dezember, als ein Euro vorübergehend fast 100 Rubel kostete - das entspricht einem Absturz von 90 Prozentpunkten seit Januar 2014. In den vergangenen Wochen erholte sich der Rubel ein wenig. Anfang März mussten Russen für einen Euro noch rund 66 Rubel bezahlen, fast doppelt so viel wie ein Jahr zuvor.
Um den schwächelnden Rubel zu stützen, verkauft die russische Zentralbank im großen Stil Devisen, die die Rohstoffmacht mit dem Verkauf von Öl und Gas angespart hat. Die internationalen Währungsreserven schrumpften nach Angaben der Notenbank seit März 2014 um mehr als ein Viertel von fast 500 Milliarden Dollar (etwa 460 Mrd Euro) auf 360 Milliarden Dollar.
Das Leben in Russland wird rasant teurer. Das merken die Menschen vor allem an der Miete und an der Kasse im Supermarkt. Das Wirtschaftsministerium erwartet für dieses Jahr eine Inflation von rund 12 Prozent. Die Preise für Lebensmittel stiegen in den vergangenen Monaten aber im Durchschnitt sogar um rund 20 Prozent. Experten warnen wegen der Krise in Russland vor einer deutlich höheren Inflation. Manche gehen von bis zu 17 Prozent aus.
Der massive Abzug von Kapital aus Russland ist nach Meinung von Ex-Finanzminister Alexej Kudrin ein schwerer Schlag für die heimische Wirtschaft. 2014 wurden nach Angaben der Zentralbank Vermögenswerte im Wert von mehr als 150 Milliarden Dollar (140 Mrd Euro) aus Russland verlegt, fast zweieinhalb Mal so viel wie im Vorjahr. Für 2015 erwarten die Behörden eine Kapitalflucht von bis zu 100 Milliarden Dollar. Wegen der Senkung der Kreditwürdigkeit Russlands durch internationale Ratingagenturen warnen Experten sogar vor Kapitalflucht von bis zu 135 Milliarden Dollar.
Und in der EU gewinnen nationalistische Tendenzen erneut die Oberhand. Merkel mag an die offene Gesellschaft glauben. Auch die Menschen, die in der Ukraine für Demokratie und Freiheit kämpften, streben danach. Aber diese Werte existieren in der heutigen EU nicht mehr. Europa als gleichberechtigte und freiwillige Partnerschaft? Gibt’s doch nicht mehr.
Aber Merkel hat doch gerade nicht nationalistisch gehandelt. Sie öffnete die Grenze für syrische Flüchtlinge und setzte so auch die EU unter Zugzwang.
Deutschland mag eine Ausnahme sein. Aber jeder Mitgliedstaat achtet peinlich genau auf seine eigenen Interessen. Die EU braucht endlich eine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Sie muss umfassend sein und über die Grenzen Europas reichen. Schließlich ist es weniger zerstörerisch und ganz gewiss weniger teuer, wenn Asylsuchende in ihrer jeweiligen Umgebung bleiben. Die EU sollte jährlich 15.000 Euro pro Asylbewerber für Wohnen, Gesundheit und Ausbildung bereitstellen – auch um den Mitgliedstaaten die Aufnahme von Flüchtlingen zu erleichtern.
"Mit dem Euro wird sich Griechenland niemals erholen"
Aber die EU hat kein Geld.
Das bestehende Budget reicht dafür natürlich nicht. Aber sie könnte langfristige Anleihen ausgeben, die sich den AAA-Kreditstatus der EU zunutze machen. Dies würde auch wie ein moralisch gerechtfertigter Haushaltsstimulus für Europas Wirtschaft funktionieren – und die Belastung ließe sich fair aufteilen zwischen Ländern, die Flüchtlinge aufnehmen, und denen, die das nicht tun möchten.
Warum haben Sie eigentlich das Börsengeschäft aufgegeben?
Ganz einfach: Weil ich mir Sorgen um die Menschheit mache. Sie mögen denken, ich übertreibe – aber unserer gesamten westlichen Zivilisation droht die Auslöschung. Mithilfe der Naturwissenschaften hat der Mensch die Natur unter seine Kontrolle gebracht. Doch unsere Fähigkeit, uns selbst zu kontrollieren, hat damit nicht Schritt gehalten. Deswegen investiere ich zunehmend in die Sozialwissenschaften, etwa in meiner Denkfabrik Institute for New Economic Thinking.
Das klingt düster. Sind Sie wirklich so pessimistisch?
Das habe ich von meinem Vater gelernt. Als die Nazis 1944 Ungarn besetzten, hatte er zuvor schon falsche Pässe für uns besorgt. Sonst hätten wir nicht überlebt. Er hat also den Tatsachen ins Auge gesehen, statt die Realität zu leugnen. Auch ich versuche erst einmal das Schlimmste anzunehmen. Das hat mir bei meiner Arbeit als Investor geholfen, und es hilft mir, wenn ich über politische Probleme nachdenke. Denn Gefahr schafft Möglichkeiten. Es ist immer am dunkelsten, bevor es hell wird.
Gilt das auch für Griechenland?
Leider nein. Als die Krise in Griechenland Ende 2009 richtig ausbrach, hat die EU – angeführt von Deutschland – geholfen, aber zu einem viel zu hohen Preis. Sie haben überhöhte Zinsen für ihre Kredite verlangt, so wurden die griechischen Staatsschulden unbezahlbar. Leider haben die Deutschen diesen Fehler in der jüngsten Verhandlungsrunde wiederholt. Sie haben erneut Bedingungen durchgesetzt, die Griechenland tiefer in den Bankrott stürzen werden. Das Land wird seine Schulden nie zurückzahlen können.
Das sagen Analysten zur Lage Griechenlands
"Letztendlich entscheidet das Referendum am Sonntag darüber, ob Griechenland in der Währungsunion bleibt. Wenn sich die Griechen dafür aussprechen, kann die Staatengemeinschaft ein solch demokratisches Votum nicht übergehen. Dann werden die Verhandlungen wieder aufgenommen. Bei einem negativen Votum kommt es dagegen zum Grexit. (...) Bis dahin tobt ein Nervenkrieg. Die Kapitalverkehrskontrollen reichen zunächst erst einmal aus, um das Schlimmste zu verhindern. Aber die Kontrollen behindern die Wirtschaft, ebenso wie die von der Syriza geschaffene Unsicherheit. Das ist wirtschaftlich ein verlorenes Jahr für Griechenland. Für Deutschland spielt das keine Rolle. Nicht einmal ein Prozent der deutschen Exporte gehen dorthin."
„Natürlich wird der Dax zunächst leiden, aber fundamental ist die Wirtschaft in Takt (...) Der Rückschlag wird nicht von Dauer sein."
"Für Griechenland wird es jetzt ganz schwierig. Europa versucht, den Schaden für andere Euro-Länder zu begrenzen. Das wird mit großer Wahrscheinlichkeit gelingen. Die EZB hat bereits erklärt, dass sie die Lage an den Finanzmärkten genau verfolgt und notfalls eingreifen wird. Bei größeren Turbulenzen, die der Konjunktur gefährlich werden könnten, könnte die EZB ihre Anleihekäufe zeitlich nach vorne ziehen oder aufstocken. Sie könnte auch Anleihen bestimmter Länder wie Spanien und Italien früher kaufen. Sie könnte noch deutlicher darauf verweisen, dass es das ultimative Sicherheitsprogramm - das sogenannte OMT-Programm - auch noch gibt."
"Mit einer solchen Wendung haben nur wenige gerechnet. Kapitalverkehrskontrollen, vor allem aber die hohe Unsicherheit der kommenden Wochen und Monate dürften die letzte Hoffnung auf eine wirtschaftliche Erholung in Griechenland zunichte machen. Ein Staatsbankrott Griechenlands bedeutet nicht automatisch Grexit. Im besten Fall könnten die Entwicklungen dieser Tage nun dazu führen, dass Europa einen Insolvenzmechanismus für Staaten entwickelt - ganz so, wie die erste Griechenlandkrise vor fünf Jahren zu einem Rettungsmechanismus für Staaten führte. Spannend bleibt, ob und wie andere populistische Kräfte in Europa von den Entwicklungen profitieren. Die Polarisierung zwischen etabliertem Lager und Populisten dürfte in den kommenden Monaten weiter steigen."
"Weder der Grexit noch die Staatspleite sind zwingend. Es hängt sehr davon ab, wie das Referendum ausgeht. Wenn es zu einer Ablehnung kommt, wäre Griechenland auf schiefer Ebene unterwegs in Richtung Euro-Abschied. Die EZB hat die Kapitalverkehrskontrollen praktisch erzwungen, indem sie die Notfallkredite an griechische Banken nicht weiter erhöht hat. Wenn die EZB sie wieder aufstockt nach einem positiven Votum der Griechen, dann wären sie in diesem Umfang nicht mehr notwendig. Die Folgen für die Wirtschaft sind sehr negativ. Durch die Kapitalverkehrskontrollen werden die Geschäfte von Unternehmen und deren Abwicklung über die Banken behindert. Das dürfte die Konjunktur weiter beschädigen.
Die direkten Folgen für die Wirtschaft in der Euro-Zone und Deutschland dürften begrenzt sein - Griechenland ist zu klein, die Handelsverflechtungen zu gering. Man muss aber abwarten, wie stark die Marktturbulenzen sein werden. Denn die könnten auf die Realwirtschaft durchschlagen."
Könnte das Land nicht eine interessante Anlage für private Investoren sein?
Nicht, solange Griechenland Teil der Euro-Zone ist. Mit dem Euro wird sich das Land niemals erholen, weil der Wechselkurs viel zu hoch und das Land damit nicht wettbewerbsfähig ist.
Sorgt Sie, dass mitten in all diesen Krisen ausgerechnet Großbritannien über den Austritt abstimmen will?
Ohne Großbritannien wäre die EU viel schwächer. Schließlich hat es immer eine ausgleichende Rolle gespielt, schon weil es so viel marktwirtschaftlicher geprägt ist als etwa Frankreich.
Darum will Angela Merkel die Briten in der EU halten
Angela Merkel und der britische Premier David Cameron wollen gemeinsam verhindern, dass Brüssel noch mehr Macht bekommt. Der Kampf gegen die EU-Bürokratie eint Berlin und London.
Soll es je eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, geht das nur mit den Briten. Schließlich sind sie ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und im Besitz von Atomwaffen.
In der Wirtschaftspolitik hat Merkel mit den Briten mehr gemeinsame liberale Prinzipien als mit dem französischen Sozialisten François Hollande. Auch bei TTIP und Freihandel verbindet Merkel viel mit den britischen Konservativen.
Sollten die Briten austreten, würden in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden ebenfalls die Anti-EU-Strömungen stärker. Und auch in Deutschland bekämen die EU-Gegner Auftrieb.
Ohne die Briten würde der europäische Binnenmarkt kleiner und schwächer – ein Nachteil für die deutschen Unternehmen, die auf der Insel über 120 Milliarden Euro investiert haben, mehr als doppelt so viel wie in Frankreich und China.
Aber eine Mehrheit der Briten scheint für den Austritt.
Doch nur, weil die Brexit-Kampagne die Öffentlichkeit an der Nase herumführt. Derzeit genießt Großbritannien den besten Deal, den man sich vorstellen kann. Das Land hat Zugang zum Binnenmarkt, wohin fast die Hälfte der britischen Exporte fließt. Gleichzeitig zieht die Euro-Krise die heimische Wirtschaft nicht herunter. Das zu gefährden ist hirnrissig.
"Eine prosperierende Ukraine könnte zum Asset in Europa werden"
Warum protestiert die britische Wirtschaft nicht?
Privat sind Wirtschaftslenker klar gegen einen Brexit. Aber sie haben wie die Regierung lange gezögert, weil alle ja noch auf einen Deal mit der EU warten. Das hat den Gegnern einen Startvorteil gegeben.
Europa – und die Welt – konnten lange auf riesige Wachstumsraten in China zählen. Ist das vorbei?
China ist immer noch das wichtigste Land auf der Erde. Es verfügt immer noch über gigantische Devisenreserven. Und es genießt noch immer großes Vertrauen bei Anlegern. Sie sind sicher, dass ein Regime, das so viele Herausforderungen gemeistert hat, schon weiß, was es tut.
Die fünf großen Gefahren für Chinas Wirtschaftswachstum
Seit Jahren schießen die Immobilienpreise in Chinas Großstädten in ungeahnte Höhen - seit Monaten mehren sich jedoch Zeichen für einen Kollaps.
Neben den trägen Staatsbanken hat sich in China ein großer Markt von nicht-registrierten Geldinstituten etabliert, die der Staat bislang nicht kontrollieren kann.
Banken haben ohne genaue Prüfung Firmen immense Kredite für unproduktive und verschwenderische Investitionen gegeben.
Mit Subventionen der Regierung haben viele Branchen gewaltige Überkapazitäten aufgebaut, beispielsweise die Solarindustrie. Aber sie werden ihre Produkte nicht los.
Chinas Wirtschaft hängt vom Export ab. Geraten wichtige Abnehmerländer in Krisen, hat auch China Probleme.
Und diese Stärken reichen, um China vor einem Wirtschaftsabsturz zu bewahren?
Leider verbrennt China derzeit diese Devisenreserven sehr schnell. Und auch das Urvertrauen der Anleger beginnt zu wanken, da die chinesische Regierung viele Fehler gemacht hat. Denken Sie nur an die hohe Verschuldung der Banken und Staatsbetriebe oder die Umweltproblematik. Das Grundvertrauen mag China noch drei Jahre schützen – aber es steht vor einer seiner größten Herausforderungen.
Schafft Chinas Präsident Xi Jinping das?
Er ist ein starker Führer, aber hat eine große Schwäche: Xi Jinping ist ein Kontrollfreak. Aber marktwirtschaftliche Reformen klappen nicht ohne politische Zugeständnisse. Xi Jinping kann etwa noch so viele Antikorruptionskampagnen ausrufen – ohne unabhängige Medien sind sie zum Scheitern verurteilt. Und diesen Schritt scheint er bislang nicht machen zu wollen. In diesem Punkt ist er Russlands Präsident Putin näher.
Putin hat Ihre Stiftung zum Staatsfeind erklärt, wohl wegen des Einsatzes für Demokratie in der Ukraine. Wie ist die Lage da?
Die Menschen in der Ukraine haben in den vergangenen zwei Jahren schlicht Unglaubliches geleistet. Doch die Europäer geben ihnen viel zu wenig Geld. Damit machen sie denselben Fehler wie in Griechenland. Die „alte“ Ukraine ähnelte dem alten Griechenland. Oligarchen hatten das Land unter sich aufgeteilt, und Beamte wollten sich selbst bereichern. Aber die Menschen in der neuen Ukraine wollen radikale Reformen, dabei brauchen sie Europas Hilfe. Und das würde sich für Europa direkt auszahlen: Denn eine prosperierende Ukraine könnte zum Asset in Europa werden – gegen russische Aggression und für Solidarität und Aufbruch, die Europa mal ausmachten.
Haben die Amerikaner die Bedeutung der Ukraine besser begriffen?
Sehr viel besser. US-Vizepräsident Joe Biden hat gerade eine großartige Rede in der Ukraine gehalten und Präsident Petro Poroschenko zu Fortschritten bei Demokratie und Korruptionsbekämpfung angehalten. Ähnliches könnte in Europa nur Merkel leisten. Leider hat sie aufgrund der Flüchtlingskrise offenbar schlicht nicht die Zeit, sich auch noch ausgiebig um die Ukraine zu kümmern.
Viele werfen Präsident Barack Obama aber zu viel Nachsicht im Umgang mit Wladimir Putin vor.
Und haben völlig recht. Obama wollte unbedingt jede Konfrontation mit Russland vermeiden. Dabei hätte er ihm gleich entschlossen entgegentreten müssen, als Putin sich in die Konflikte im Nahen Osten, vor allem in Syrien, eingemischt hat. Man kann sagen, dass der türkische Präsident Recep Erdoğan Obama einen Gefallen getan hat, als er gerade einen russischen Kampfjet abschießen ließ. Denn das machte Putin schlagartig klar, dass seine Politik des militärischen Zündelns in Syrien Konsequenzen hat. Und mit einem Schlag bemüht er sich um eine politische Lösung. Nur leider ist jede Lösung für Syrien hoch komplex, genau wie für den „IS“-Terror. Diese Gruppe hat die Achillesferse der westlichen Gesellschaften entdeckt, die Angst vor dem Tod. Durchs Schüren dieser Angst versuchen sie uns von Toleranz und Offenheit abzubringen. Lassen wir uns darauf ein – wie der republikanische Präsidentschaftsbewerber Donald Trump predigt –, betreiben wir das Geschäft der Terroristen.
Sie sind beide Milliardäre, leben beide in New York. Kennen Sie Trump?
Vor vielen Jahren sprach er mich mal an, ob ich nicht der Hauptmieter in einem seiner Wolkenkratzer werden wolle. Er wollte, dass ich einen Preis nenne. Und ich sagte nur: „Kann ich mir nicht leisten.“ Er ist gefährlicher noch als George W. Bush. Bush hat immerhin nach den Anschlägen vom 11. September Moscheen besucht, um der Welt klarzumachen, dass Amerika keinen Krieg mit dem Islam führt. Trump will einen Einreisestopp gegen Muslime verhängen.
Ein anderer US-Milliardär, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, hat gerade versprochen, 99 Prozent seines Vermögens für gute Zwecke auszugeben. Beeindruckt vom jungen Kollegen?
Ich glaube, dass diese neuen jungen IT-Milliardäre durchaus wertvolle Beiträge leisten. Aber ich erlaube mir doch den Hinweis, dass Zuckerberg sein Vermögen nicht fortgegeben hat oder eine wohltätige Einrichtung gegründet hat. Er hat eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung gegründet, die weiter investieren kann und über die er volle Kontrolle behält. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein PR-Stunt ist oder nicht – aber ganz sicher ist es nicht einfach Wohltätigkeit.