Giannis Boutaris Der ziemlich andere griechische Politiker

Vor der Wahl fragen sich viele Griechen: Wo bleibt die Erneuerung? Wie sie aussehen könnte, zeigt ein Besuch im Rathaus der nordgriechischen Stadt Thessaloniki. Der dortige Bürgermeister prägt einen neuen Politik-Stil.

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Der Bürgermeister von Thessaloniki: Giannis Boutaris. Foto: N. Pilos

Giannis Boutaris sitzt hinter seinem massiven Holzschreibtisch. Zu seiner Rechten türmen sich die Aktenstapel einen halben Meter hoch auf. Man sieht: Hier wird gearbeitet, nicht repräsentiert.

Die Fahnen, mit denen griechische Politiker gern ihre Schreibtische einrahmen, um ihren eigenen Status zu unterstreichen, hat der Bürgermeister Boutaris in die hinterste Ecke seines weitläufigen Amtszimmers verbannt, eine griechische Nationalflagge, die Fahne mit dem Stadtwappen von Thessaloniki und eine Europaflagge.

Boutaris umgibt sich lieber mit Familienfotos. Auf seinem Schreibtisch steht eine Sanduhr. Er dreht sie um, und der rötliche Sand  beginnt vom oberen in das untere Glas zu rieseln. „Wenn bestimmte, langatmige Referenten mir etwas vortragen, sage ich ihnen: Du musst fertig sein, wenn die Uhr abgelaufen ist“, erklärt Giannis Boutaris mit einem verschmitzten Lächeln.

Sie stehen zur Wahl

„In meinem Alter habe ich keine Zeit zu verlieren“, sagt er und zündet sich die nächste Camel ohne Filter an, trotz Rauchverbots im Rathaus. Giannis Boutaris wird dieses Jahr 70. Als Winzer hat er mit seinen Weinen bei internationalen Wettbewerben zahlreiche Auszeichnungen gewonnen.

In einem Alter, wo andere sich zur Ruhe setzen, übertrug er das Weingut seinen Kindern, um selbst noch einmal in der Kommunalpolitik seiner Heimatstadt etwas zu bewegen.

Seit 16 Monaten ist er Bürgermeister. Boutaris ist ein alter Mann. Und dennoch sehen viele Griechen in ihm die Erneuerung, die das krisengeschüttelte, deprimierte Land so dringend braucht. Selbst aus der arroganten Hauptstadt Athen, die sich gern für den Nabel Griechenlands hält, blicken sie nun hinauf ins 500 Kilometer entfernte Thessaloniki.

Bodenständigkeit statt Protz

Während die Griechen allmählich verstehen, dass ihre Schuldenkrise in Wirklichkeit eine Krise der politischen Kultur ist, erkennen sie im Rathaus von Thessaloniki einen neuen Politiker-Typ, der fast alles anders macht. „Boutaris ist ehrlich, bescheiden und integer – bereits das macht ihn zu einer Ausnahmeerscheinung, einer Hoffnung in der Politik“, sagt der Athener Politologe und Historiker Thanos Veremis.

Schon äußerlich ist der schlanke, drahtige Boutaris ganz anders als die selbstzufriedenen Politiker. Ein blaukariertes Hemd, breite Hosenträger, gestreift in den Regenbogenfarben, halten die khakifarbene Sommerhose. Im linken Ohrläppchen trägt Boutaris einen dezenten goldenen Stecker. Er ist bekennender Alkoholiker, war lange schwerer Trinker.

Jetzt feiert Boutaris zwei Geburtstage im Jahr: den, der in seinem Personalausweis steht, und jenes andere Datum, als er vor 21 Jahren dem Alkohol entsagte. Seither ist er „trocken“. Den rechten Handrücken ziert eine Tätowierung: ein Gecko. „Eidechsen häuten sich“, erklärt Boutaris, „das ist das Geheimnis des Lebens: der Wandel“.

Kein Wunder, dass ihm Bischof Anthimos, der Metropolit von Thessaloniki, vor der Wahl den Segen verweigerte. „So lange ich lebe, wirst Du nicht Bürgermeister“, geiferte der erzkonservative Geistliche. Aber der Fluch wirkte nicht. Die Leute wählten Boutaris trotzdem. Weil er einer von ihnen ist.

Andere lassen sich chauffieren, Boutaris schwingt sich aufs Fahrrad. Bei Regen fährt er im Auto, aber es ist ein Kleinwagen. Andere lassen sich Aktentaschen nachtragen, Boutaris schultert einen Rucksack. Er trat an, um das System zu verändern.

„Wenn das System mich verändert, bin ich gescheitert“, sagt er. „Bisher habe ich mich behauptet.“ Eine kreisrunde Goldrandbrille, wache, hellbraune Augen – man glaubt ein amüsiertes Zwinkern wahrzunehmen.

Eine seiner ersten Amtshandlungen als Bürgermeister war, einen Wirtschaftsprüfer zu beauftragen. „Danach wusste ich, wie arm die Stadt ist“, sagt Boutaris. Wenig Geld, viel Personal: 4500 Beschäftigte hat die Stadtverwaltung. „3000 würden reichen“, meint Boutaris. Das hätte man von einem gewöhnlichen Bürgermeister nicht gehört.

Der hätte nach noch mehr Planstellen gerufen, schließlich muss man als Politiker seine Klientel belohnen, zum Beispiel mit Jobs in der Kommunalverwaltung. „Bei mir gibt es das nicht, ich verteile keine Rousfettia“, sagt Boutaris.

So nennt man in Griechenland diese Gefälligkeiten, die Griechenlands politische Kultur vergiften und das Land an den Rand des Ruins gebracht haben. Stellen streichen kann Boutaris allerdings in seiner Stadtverwaltung auch nicht. Darüber entscheidet im zentralistischen Griechenland das Innenministerium.

Hinter Boutaris‘ Schreibtisch hängt ein Foto von ihm. Darauf scheint er sich das kurzgeschorene, wuschelige graue Haar zu raufen. Das musste er schon öfter, seit er Anfang 2011 Bürgermeister der Hafenstadt wurde. Bis dahin war Thessaloniki 24 Jahre lang von den Konservativen und ihren Seilschaften regiert worden.

Schwerer Kampf gegen Günstlingswirtschaft

„Hier herrschten unbeschreibliche Zustände“, sagt Boutaris. Zum Beispiel die Sache mit den Überstunden: manche Bediensteten der Stadtverwaltung rechneten im Laufe eines Jahres Hunderte Überstunden ab – ohne dass irgendjemand prüfte, ob, warum, wann und wie lange die Beschäftigten zusätzlich gearbeitet hatten.

Boutaris kann viele solche Geschichten erzählen. Wie die von den verschwundenen Müllmännern: rund 1500 Beschäftigte hat die Müllabfuhr. 120 von ihnen sind aber nicht auffindbar. Sie sitzen vielleicht in irgendwelchen Büros, vielleicht bleiben sie auch zu Hause und kommen gar nicht zur Arbeit.

Es handelt sich vermutlich um Günstlinge früherer Bürgermeister, die Planstellen bei der Müllabfuhr zugeschanzt bekamen, sich aber nicht die Finger schmutzig machen wollen. Deshalb ließen sie sich in andere Abteilungen versetzen. „Aktenvermerke darüber gibt es nicht, alles lief über mündliche Vereinbarungen“, erzählt eine Boutaris-Mitarbeiterin, „wir wissen bis heute nicht, wo alle diese Leute sind.“

32 Direktoren traf Boutaris bei seinem Amtsantritt in der Stadtverwaltung an. „Viele kannten einander gar nicht, keiner wusste, was der andere tut“, erzählt er. Inzwischen hat er die Zahl der Direktoren auf 22 reduziert, und sie konferieren jetzt regelmäßig, um ihre Arbeit zu koordinieren. Der Bürgermeister lässt jetzt auch Arbeitsplatzbeschreibungen machen, damit jeder weiß, was er zu tun hat. Bisher gab es das nicht.

Das alles hört sich nach Kontrolle an. Aber Boutaris sagt: „Ich will nicht kontrollieren, ich delegiere.“ Er diskutiert, versucht seine Mitarbeiter zu motivieren. Das hat er in der Wirtschaft gelernt, als Chef des Boutaris-Familienunternehmens mit seinen 500 Beschäftigten. „Boutaris spricht nie von oben herab“, erzählt ein Mitarbeiter, „er begegnet Dir immer auf Augenhöhe.“

Griechische Politiker geben vor, alles zu wissen. Boutaris will lernen. Deshalb fuhr er nach Deutschland. In Hamburg ließ er sich erklären, wie ein moderner Hafen funktioniert. In Berlin studierte er das dortige Abfall-Management. Wie alle griechischen Städte hat Thessaloniki ein gravierendes Müll-Problem. „Unser System ist antiquiert und irreparabel“, sagt Boutaris.

Versöhnung mit den Türken

Das sind die Schuldenkönige Europas
A general view of the old town of Tallinn, Estonia Quelle: AP
Speaker of the Parliament of Finland Eero Heinaluoma,president-elected Sauli Niinisto, president Tarja Halonen Quelle: dapd
LuxemburgDer kleinste Flächenstaat der Welt hat 2011 nur 0,6 Prozent des BIPs an neuen Schulden aufgenommen. In Euro macht das putzige 253 Millionen Euro. Genauso hoch wie Luxemburgs Neuverschuldung war das operative Ergebnis der VW-Tochter MAN im ersten Quartal 2012. Quelle: dpa
Ein Aufkleber mit der Aufschrift «Made in Germany» und dem EU Symbol klebt auf einem Solarkollektor Quelle: dpa
View of the new embassy of Malta in Berlin Quelle: AP
Blick auf das hell erleuchtete Riesenrad im Prater in Wien Quelle: dpa
Europäische Länder-Flaggen hängen schlaff vor dem Europäischen Parlament in Brüssel, Belgien Quelle: dpa

Deshalb will er jetzt die Abfallbeseitigung privatisieren, wie in Berlin. „Damit können wir die Kosten auf die Hälfte reduzieren“, sagt Boutaris. Ausgerechnet von den Deutschen lernen, die wegen des Spardiktats derzeit in Griechenland so verhasst sind? Auf solche Stimmungen müsste ein Politiker wohl Rücksicht nehmen. Boutaris setzt sich darüber hinweg.

Und er rührt an Tabus. Er fuhr nach Istanbul, das man in Griechenland immer noch Konstantinopel nennt, und überredete die Manager von Turkish Airlines, eine direkte Flugverbindung nach Thessaloniki einzurichten. So will Boutaris Touristen aus der Türkei in seine Stadt bringen. „50.000 kamen vergangenes Jahr, dieses Jahr erwarten wir doppelt so viele“, erzählt der Bürgermeister.

Anfangs gab es Widerstände. Schließlich wurde Thessaloniki, die Geburtsstadt von Kemal Atatürk, erst 1913 nach fast fünfhundertjähriger osmanischer Besatzung befreit. „Aber jetzt, wo das Geld der türkischen Gäste fließt, sind alle zufrieden“, berichtet Boutaris. Jetzt plant er Besuche in den Balkan-Hauptstädten. Er möchte um Touristen werben, aber auch 15.000 Studenten aus den Nachbarländern in seine Stadt holen.

Auch Besucher aus Israel will Boutaris nach Thessaloniki bringen. Die Stadt hat eine weit zurückreichende jüdische Tradition, galt bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts als „Jerusalem des Balkans“. Vor dem 2. Weltkrieg lebten hier etwa 60.000 Juden, deren Vorfahren vor der spanischen Inquisition ins Osmanenreich geflüchtet waren.

Die deutschen Besatzer deportierten fast die gesamte jüdische Gemeinde von Thessaloniki in die Vernichtungslager. Manche in Thessaloniki lassen sich ungern an dieses Kapitel der Stadtgeschichte erinnern, weil damals nicht wenige Liegenschaften der Holocaust-Opfer unter dubiosen Umständen in den Besitz von Griechen übergingen.

Offener Umgang mit unbequemer Geschichte

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Boutaris dagegen plädiert für einen offenen, ehrlichen Umgang mit der Geschichte. So will er an die lange Historie Thessalonikis als kosmopolitisches Zentrum im Schnittpunkt jahrtausendealter Handelswege anknüpfen. Auch den unsinnigen Namensstreit mit dem Nachbarland Mazedonien, das in Griechenland schamhaft als „Skopje“ oder „Fyrom“ bezeichnet wird, sähe Boutaris gern möglichst schnell beigelegt: „Schließlich sind das unsere besten Kunden“.

Während er Thessaloniki für die Nachbarländer zu öffnen versucht, stößt Boutaris oft an die Grenzen, die einem Bürgermeister im zentralistischen Griechenland gesetzt sind. Aber vielleicht bringt die Krise, die alles in Griechenland auf den Prüfstand stellt, auch diese verkrusteten Strukturen in Bewegung.

Von der Parlamentswahl am Sonntag erhofft Boutaris sich die Bildung einer „Koalition der Vernunft“, in der möglichst wenige Parteipolitiker sondern viele Technokraten sitzen sollten. Nur so könne Griechenland die Krise meistern, glaubt Boutaris. Und er selbst? Sieht er für sich eine Rolle auf der nationalen politischen Bühne?

„Niemals“, wehrt Boutaris ab. Er will sich Ende 2014 noch einmal zur Wahl stellen. „Meine Aufgabe ist in der Kommunalpolitik“. Hier, in den Stadtteilen will er die Dinge bewegen, sagt Boutaris. Denn: „Der Wandel kann nicht von oben kommen, er kommt von unten.“

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