Görlachs Gedanken

Die Antwort auf Terrorismus lautet Barmherzigkeit

Fanatische Islamisten bringen Folter, Terror und Tod nach Europa. Wie sollten wir darauf reagieren? An Ostern gaben gleich zwei Päpste die Antwort: Mit Barmherzigkeit - sonst droht uns der moralische Bankrott.

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Wie sollten wir auf Folter, Terror und Tod in Europa darauf reagieren? Quelle: dpa

Das Christentum hat mehr mit Wirtschaft zu tun als gemein hin bekannt ist. Seine Lehre bezeichnet es freimütig als "Heils-Ökonomie" und meint damit: Was in der Geschichte zwischen Gott und dem Menschen geschieht, unterliegt einer gewissen Metrik, hat einen bestimmten Sinn: der Mensch glaubt, Gott gewährt dafür ewiges Leben. Auf dem Weg zu Gott gibt es gerade Wege, Umwege und Irrwege. Die Geschichte der Welt ist für Christen in diesem Sinne ein Epos, ein Drama.

So gedenkt die Welt der Opfer von Brüssel
Eiffelturm in Paris in den belgischen Farben Quelle: REUTERS
Berlin: In der deutschen Hauptstadt wird am Abend der Terroranschläge das Brandenburger Tor in den Farben der belgischen Trikolore angestrahlt. Quelle: dpa
Gerichtsgebäude von Lyon Quelle: REUTERS
RomDer weltberühmte Trevi-Brunnen, eines der größten Wahrzeichen von Italiens Hauptstadt Rom, wurde in Schwarz-Gelb-Rot getaucht. Quelle: REUTERS
Neptun-Brunnen auf der Piazza Signoria in Florenz Quelle: dpa
PolenIn Warschau ließen die Polen den Palast der Kultur und Wissenschaft in den Farben der belgischen Tricolore anstrahlen. „Die Tragödie, die sich heute in Brüssel ereignete, zeigt, dass wir in einer Welt leben, in der eigentlich alle Werte, die wir als Fundament für den Bau einer Gemeinschaft erachten, anfangen, in Trümmern zu liegen“, sagte polnische Regierungschefin Beata Szydlo. Quelle: dpa
Belgische Botschaft in Prag Quelle: REUTERS

Papst Franziskus hat gerade an Ostern wieder darauf aufmerksam gemacht, dass es vor allem die Barmherzigkeit ist, mit der Gott in diesem ökonomischen Thriller operiert. Franziskus, der erste Papst aus Lateinamerika, der als Priester und Bischof täglich die Nöte der Menschen in Argentinien vor Augen hatte, der als erste Amtshandlung die Flüchtlinge in Lampedusa besucht und einigen in Europa Gestrandeten nun am Gründonnerstag die Füße gewaschen hat, sagte in seiner Predigt am Ostersonntag deutlich: „Angesichts der geistigen und moralischen  Abgründe der Menschheit, angesichts der Leere, die sich in den Herzen zeigt und Hass und Tod hervorbringt, kann nur eine unendliche Barmherzigkeit uns Rettung bringen.“

Auch sein Vorgänger, der deutsche Philosoph auf dem Stuhl Petri, Joseph Ratzinger, äußerte sich kurz vor dem Osterfest in einem Interview in ähnlicher Weise: „Erst da, wo Barmherzigkeit ist, endet die Grausamkeit, endet das Böse, endet die Gewalt.“ Es war ökonomisch geradezu geboten, dass sich gleich zwei Nachfolger Petri zu diesem Thema äußerten, Das zeigt, wie wichtig es ist und was alles für unsere Kultur und unser Zusammenleben daran hängt. Es geht dabei wirklich nicht nur um einen religiösen Narrativ, der in der Gegenwart für viele eher mythologische Züge enthält.

Alexander Görlach ist Affiliate der Harvard University. Quelle: Lars Mensel / The European

In der Debatte um die Flüchtlinge, die dem amtierenden Papst sehr am Herzen liegen, wird nicht mehr viel von Barmherzigkeit, sondern von Gerechtigkeit gesprochen: es geht den Europäern um Schengen, um Dublin, also Recht, das für Gerechtigkeit sorgen soll: welches Land nimmt wie viele Flüchtlinge auf? Wie werden die Außengrenzen dergestalt effektiv geschützt, dass die Flüchtlinge nicht dazu zwingen, wieder Grenzkontrollen einzuführen. Auch in Deutschland geht es um Recht. So forderte beispielsweise der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, dass die Container, die Flüchtlinge bezogen, den dafür geltenden Normen und Regeln voll entsprechen sollten. Es gehe zu allererst darum, Gesetze umzusetzen.

Was sagen die Päpste dazu? „Es ist die Barmherzigkeit, die uns zu Gott hinzieht, während die Gerechtigkeit uns vor ihm erschrecken lässt,“ sagte Benedikt XVI. Ja, nackte Gerechtigkeit ist absolut, gnadenlos, unbarmherzig. Wenn wir nur an objektiven Maßstäben gemessen würden, keiner, so die biblische Botschaft, könnte sich jemals als Gerechten ansehen. Das Sprechen von der Herrschaft des Rechts darf in diesem christlichen Sinne kein Fetisch werden. Was konkret heißt: bevor Flüchtlinge draußen im Kalten, auf der nassen und schlammigen Erde ungeschützt schlafen müssen, sollen sie in trockenen, sauberen Containern übernachten dürfen, auch wenn diese nicht unter voller Berücksichtigung aller Vorschriften aufgebaut werden können.

Moralischer Bankrott

Hier werden Barmherzigkeit und Gerechtigkeit miteinander verbunden, was der alte Kunstgriff schlechthin in der Ökonomie des Heils ist: die beiden göttlichen Qualitäten treffen sich in der Tugendmitte. Wenn Gott zu hundert Prozent gerecht wäre, könnte er nicht mehr barmherzig sein. Wäre er hingegen zu einhundert Prozent barmherzig, der Gerechtigkeit könnte nicht mehr genüge getan werden. Gott ist beides und somit stehen die beiden Eigenschaften im Bezug und Austausch zueinander. Was für Gott gilt, gilt in analoger Weise hier auch für den Menschen:

Eine Politik der Barmherzigkeit ist kein Gutmenschen-Gedöns, sondern ein Abwägen mit Augenmaß. Es geht in der gegenwärtigen Krise nicht darum, ob Europa alle Flüchtlinge der Welt aufnehmen kann oder nicht. Es geht darum, wie wir uns diesen Menschen gegenüber, die es zu uns aus äußerster Not und unter Aufbietung aller Kräfte schaffen, innerlich positionieren, wie wir ihnen entgegen treten. In der überhitzten Debatte, die sich im Moment in vielen christlich geprägten Nationen Europas gegen die Flüchtlinge richtet, wird eine große Übereinkunft aufgebrochen, eine abendländische Gewissheit aufgehoben, nämlich die, dass es Gerechtigkeit nicht ohne Barmherzigkeit und dass es Barmherzigkeit nicht ohne Gerechtigkeit gibt.

„Check and Balances“, also gegenseitige Kontrolle, nennt man das in der Staatslehre der europäischen, aufgeklärten Neuzeit. Machtansprüche dürfen dabei niemals absolut sein, sondern müssen von einer Gegenkraft in Schach gehalten und kontrolliert werden. Recht und Moral, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, müssen sich gegenseitig stützen. Eine Verabsolutierung des Rechts, seine Vergottung möchte man vielleicht sagen, bringt keine Gerechtigkeit, was die Gesetze der Apartheit in Südafrika, der Rassengesetze, die im vergangenen Jahrhundert in den USA Gültigkeit hatten und die Nürnberger Rassengesetze der Nazis belegen.

Große Terroranschläge in Europa

Auch dem Islam ist dieses Spannungsverhältnis nicht fremd: Zu „Allahs schönen Namen“, wie die Tradition jene nennt, die im Koran vorkommen, gehören „der Barmherzige“ und „der Gerechte“. Heute bringen die selbsternannten Bewahrer des Islam Terror, Folter, Tod über ihre Glaubensgeschwister, über Christen, Juden, Jesiden, alle, die in ihr pseudo-legalistisches Weltbild nicht passen. Wohin sich eine Kultur entwickeln kann, wenn der Buchstabe keinen Geist mehr atmet, wenn Barmherzigkeit und Moral nicht als legitime Partner von Recht und Gerechtigkeit anerkennt werden, sehen wir derzeit in der islamischen Welt, in der ISIS, Al Qaida, Boko Haram Grausamkeiten im Namen Allahs begehen, der als „Erbarmer“ und „Barmherziger“ doch zu Beginn der Suren des Koran - auch von ihnen - angerufen wird.

Papst Franziskus spendet Segen Urbi et Orbi

Die freie, aufgeklärte, christliche Welt muss der Versuchung widerstehen, als Antwort auf die Bedrohung durch islamistische Terroristen von ihren Standards abzuweichen und damit einem herzlosen Recht zur Geltung zu verhelfen, das keinen Deut Barmherzigkeit mehr atmet. In ökonomischen Termini wäre das nichts anderes als ein Bankrott. Zu Ostern haben uns gleich zwei Päpste vor einer solchen Entwicklung gewarnt.

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