Zerbricht der Westen? Nach dem Brexit-Referendum in der vergangenen Woche fragt das nicht nur die New York Times. Wer am 24. Juni in London war, der weiß, dass es nicht zu hoch aufgehängt war, wenn Briten sagten, sie seien an jenem Morgen in einem anderen Land aufgewacht. Das Vereinigte Königreich hatte es tatsächlich getan, es hatte für einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Das Buch von Stefan Zweig „Die Welt von gestern“ kam einem wieder in den Sinn. Seine Biographie, in der er so treffend beschreibt, wie auf der Schneide zwischen dem vorletzten und dem letzten Jahrhundert der Wunsch der europäischen Völker nach Einheit zum Greifen nahe kam und dann im Ersten Weltkrieg für immer vernichtet schien.
Wir Heutigen können nicht mehr verstehen oder gar erahnen, wie man vor den Verheerungen von zwei Weltkriegen und der Shoa von einem geeinten, friedlichen Europa hat träumen können. Uns ist der Zugang dazu verbaut. Aber Zweigs Buch mahnt, dass der Zustand, in dem wir heute leben, nicht selbstverständlich ist. Das heißt: Ja, der Westen kann zerbrechen. Denn mit Westen meinen wir heute vor allem die Friedensordnung, die nach dem Untergang, der Stunde Null, in Europa aufgebaut wurde.
Auch vor den menschengemachten Katastrophen des Zwanzigsten Jahrhunderts kannten die Europäer Platon und Aristoteles, waren Christen und von der Aufklärung in die Mündigkeit entlassen. Das heißt: was auch immer wir für die Identität des Westens heranziehen mögen, Erasmus von Rotterdam, Martin Luther, Karl V. oder Karl Marx – den Unterschied in der Alten Welt macht erst die Europäische Union. Ihr ist es zu verdanken, dass die siebzig Jahre ihres Bestehens die längste Friedensperiode beschreiben, die die ihr angehörenden Völker jemals erlebt haben.
Zerbricht die Europäische Union, dann zerbricht der Westen, wie wir ihn kennen. Das Projekt der Brexit-Befürworter war daher auf Zerstörung und nicht auf Neuaufbau aus. Das wird umso deutlicher, es ist geradezu dadurch bewiesen, dass die Protagonisten der Leave-Kampagne überhaupt keinen Plan haben, wie sie nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs sein Verhältnis zu Europa gestalten wollen.
Das sei allen vor Augen geführt, die in den Niederlanden, Österreich oder einem anderen europäischen Land geneigt sind, den Versprechungen der Nachahmer Glauben zu schenken: in Großbritannien wurde das Volk belogen, die Zahlen, die die Brexit-Befürworter ins Feld schickten, waren falsch. Die Versprechungen, die gemacht wurden, wurden am Morgen nach der Wahl einkassiert. Die Rechten, die überall in den Ländern der Europäischen Union nun Morgenluft schnuppern, tun dies in dem Wissen, dass auch sie das Wahlvolk betrügen und belügen werden.
Anders als damals und doch vergleichbar
Die Frage, ob sich unsere Zeit mit den Jahren zwischen den Weltkriegen und dem Erstarken des Faschismus und Nationalsozialismus vergleichen lassen, kann man mit einem klaren Ja beantworten. Die Bedingungen, die dazu führen, dass sich die Bewohner der Alten Welt wieder von nationalem Geschwätz und der damit einhergehenden Rhetorik von Allmacht einlullen lassen, sind sicher anders als damals. Aber die Anfälligkeit für Abgrenzung und Isolationismus ist wieder zurück, sie bricht sich Bahn in der Dämonisierung des Anderen. In der Gegenwart ist es der Islam, sind es die Muslime, ein Feindbild, das viele Europäer eint. Daneben gibt es aber die vielen kleinen „anderen“, wie in England der polnische Arbeiter beispielsweise.
Was ist der Westen? In den vergangenen siebzig Jahren war das für Europa: Multilateralismus, Demokratie, öffentliche Debatte, Überwindung von Landesgrenzen, Harmonisierung der Lebensbedingungen (rechtlich, wirtschaftlich) aller Menschen, die innerhalb der Europäischen Union leben. Diese Entwicklung hat die größte liberale demokratische Fläche der Erde hervorgebracht. Noch nie haben so viele Menschen so dauerhaft in Frieden und Wohlstand gelebt. Dieses Projekt zeigt allen Radikalismen, die sich im Morast unter der Oberfläche vegetierend erhalten haben, den Mittelfinger. Der Nationalismus ebenso wie der Sozialismus sind untergegangen. Ein Schelm ist aber der, der denkt, dass sich diese Ideen für immer verabschiedet hätten.
Der Westen ist nicht untergegangen. Er wird auch nicht untergehen, weil das Vereinigte Königreich am Ende nicht wirklich aus der Europäischen Union austreten wird. Das Wahlvolk ist aufgewacht und hat erkannt, dass es zum einen von seinem Wahlrecht nicht Gebrauch gemacht hat (das sind die jungen Nichtwähler) und das andere sind die Prothesen-Wähler, die lernen mussten, dass Nigel Farage ihnen kein goldenes Hüftgelenk spendieren wird.
Der Westen geht dann unter, wenn Politiker wie Boris Johnson oder Viktor Orban in ganz Europa an die Macht kommen. Ihnen fehlt die innere Spannkraft, um eine liberale Demokratie wie die Europäische Union am Leben zu erhalten.