Görlachs Gedanken

Zerbricht die EU, dann zerbricht der Westen

Die Leave-Kampagne hat gelogen – es gibt keine guten Argumente für den Brexit und allmählich wachen die Briten nun auf. Doch das reicht nicht. Wir müssen uns vor den Populisten schützen, wir müssen die EU schützen.

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Zerbricht Europa? Quelle: Marcel Stahn

Zerbricht der Westen? Nach dem Brexit-Referendum in der vergangenen Woche fragt das nicht nur die New York Times. Wer am 24. Juni in London war, der weiß, dass es nicht zu hoch aufgehängt war, wenn Briten sagten, sie seien an jenem Morgen in einem anderen Land aufgewacht. Das Vereinigte Königreich hatte es tatsächlich getan, es hatte für einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Das Buch von Stefan Zweig „Die Welt von gestern“ kam einem wieder in den Sinn. Seine Biographie, in der er so treffend beschreibt, wie auf der Schneide zwischen dem vorletzten und dem letzten Jahrhundert der Wunsch der europäischen Völker nach Einheit zum Greifen nahe kam und dann im Ersten Weltkrieg für immer vernichtet schien.

Alexander Görlach ist Affiliate der Harvard University. Quelle: Lars Mensel / The European

Wir Heutigen können nicht mehr verstehen oder gar erahnen, wie man vor den Verheerungen von zwei Weltkriegen und der Shoa von einem geeinten, friedlichen Europa hat träumen können. Uns ist der Zugang dazu verbaut. Aber Zweigs Buch mahnt, dass der Zustand, in dem wir heute leben, nicht selbstverständlich ist. Das heißt: Ja, der Westen kann zerbrechen. Denn mit Westen meinen wir heute vor allem die Friedensordnung, die nach dem Untergang, der Stunde Null, in Europa aufgebaut wurde.

Auch vor den menschengemachten Katastrophen des Zwanzigsten Jahrhunderts kannten die Europäer Platon und Aristoteles, waren Christen und von der Aufklärung in die Mündigkeit entlassen. Das heißt: was auch immer wir für die Identität des Westens heranziehen mögen, Erasmus von Rotterdam, Martin Luther, Karl V. oder Karl Marx – den Unterschied in der Alten Welt macht erst die Europäische Union. Ihr ist es zu verdanken, dass die siebzig Jahre ihres Bestehens die längste Friedensperiode beschreiben, die die ihr angehörenden Völker jemals erlebt haben.

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

Zerbricht die Europäische Union, dann  zerbricht der Westen, wie wir ihn kennen. Das Projekt der Brexit-Befürworter war daher auf Zerstörung und nicht auf Neuaufbau aus. Das wird umso deutlicher, es ist geradezu dadurch bewiesen, dass die Protagonisten der Leave-Kampagne überhaupt keinen Plan haben, wie sie nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs sein Verhältnis zu Europa gestalten wollen.

Das sei allen vor Augen geführt, die in den Niederlanden, Österreich oder einem anderen europäischen Land geneigt sind, den Versprechungen der Nachahmer Glauben zu schenken: in Großbritannien wurde das Volk belogen, die Zahlen, die die Brexit-Befürworter ins Feld schickten, waren falsch. Die Versprechungen, die gemacht wurden, wurden am Morgen nach der Wahl einkassiert. Die Rechten, die überall in den Ländern der Europäischen Union nun Morgenluft schnuppern, tun dies in dem Wissen, dass auch sie das Wahlvolk betrügen und belügen werden.

Anders als damals und doch vergleichbar

Die Frage, ob sich unsere Zeit mit den Jahren zwischen den Weltkriegen und dem Erstarken des Faschismus und Nationalsozialismus vergleichen lassen, kann man mit einem klaren Ja beantworten. Die Bedingungen, die dazu führen, dass sich die Bewohner der Alten Welt wieder von nationalem Geschwätz und der damit einhergehenden Rhetorik von Allmacht einlullen lassen, sind sicher anders als damals. Aber die Anfälligkeit für Abgrenzung und Isolationismus ist wieder zurück, sie bricht sich Bahn in der Dämonisierung des Anderen. In der Gegenwart ist es der Islam, sind es die Muslime, ein Feindbild, das viele Europäer eint. Daneben gibt es aber die vielen kleinen „anderen“, wie in England der polnische Arbeiter beispielsweise.

Was ist der Westen? In den vergangenen siebzig Jahren war das für Europa: Multilateralismus, Demokratie, öffentliche Debatte, Überwindung von Landesgrenzen, Harmonisierung der Lebensbedingungen (rechtlich, wirtschaftlich) aller Menschen, die innerhalb der Europäischen Union leben. Diese Entwicklung hat die größte liberale demokratische Fläche der Erde hervorgebracht. Noch nie haben so viele Menschen so dauerhaft in Frieden und Wohlstand gelebt. Dieses Projekt zeigt allen Radikalismen, die sich im Morast unter der Oberfläche vegetierend erhalten haben, den Mittelfinger. Der Nationalismus ebenso wie der Sozialismus sind untergegangen. Ein Schelm ist aber der, der denkt, dass sich diese Ideen für immer verabschiedet hätten.

"Wir müssen Europa entgiften"
Nach dem Brexit-Votum in Großbritannien muss Europa aus Sicht von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine „massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern“ in der Europäischen Union, sagte der Vizekanzler am Samstag in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Ob sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland in Zukunft weiter positiv entwickle, hänge entscheidend davon ab, ob Europa „stabil und kräftig“ bleibe. Gabriel betonte, Deutschland sei „Nettogewinner“ und nicht „Lastesel der Europäischen Union“, wie oft behauptet werde. Der Blick der Welt auf Europa werde sich ohne Großbritannien in der EU verändern. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute - das sei „verheerend“, betonte Gabriel. „Da geht die Idee Europas verloren“ - und das erzeuge Wut und Verachtung. Der Zorn richte sich gegen das „Sparregime aus Brüssel“ und oft ebenfalls gegen Berlin. Klar sei daher, „dass wir Europa entgiften müssen“. Die EU sei von Anfang an auch als „Wohlstandsprojekt“ gedacht gewesen. Das gehöre dringend wieder stärker in den Fokus. Die EU-Schuldenländer brauchten mehr Freiraum für Investitionen in Wachstum, Arbeit und Bildung, forderte Gabriel. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat den britischen Premierminister scharf kritisiert. Auf die Frage, was er davon halte, dass David Cameron erst im Oktober zurücktreten will, warf Schulz dem Premier vor, er nehme aus parteitaktischen Überlegungen erneut einen ganzen Kontinent „in Geiselhaft“. dpa dokumentiert den Wortlaut: „Offen gestanden: Ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens. Er hat vor drei Jahren, als er in seiner Partei unter Druck stand, den Radikalen am rechten Rand der Tories gesagt: Ich gebe Euch ein Referendum, dafür wählt Ihr mich wieder. Das hat geklappt. Da wurde ein ganzer Kontinent verhaftet für seine parteiinternen taktischen Unternehmungen. Jetzt ist das Referendum gescheitert. Jetzt sagt der gleiche Premierminister, ja, Ihr müsst aber warten, bis wir (...) mit Euch verhandeln, bis der Parteitag der Konservativen im Oktober getagt hat. Dann trete ich zurück, dann gibt's einen neuen Parteichef, der wird dann Premierminister. Also ehrlich gesagt: Man kann einen Parteitag auch morgen früh einberufen, wenn man das will. Ich finde das schon ein starkes Stück, das der Herr Cameron mit uns spielt.“ Quelle: dpa
Obama, Brexit Quelle: AP
Putin, Brexit Quelle: REUTERS
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: REUTERS
Portugals Präsident Marcelo Rebelo de Sousa erklärt, dass der Ausgang des Referendums „uns alle nur traurig stimmen kann“. In einer vom Präsidialamt am Freitag in Lissabon veröffentlichten Erklärung betonte das 67 Jahre alte Staatsoberhaupt aber auch: „Das Europäische Projekt bleibt gültig.“ Allerdings sei es „offensichtlich“, so Rebelo de Sousa, dass „die Ideale (der EU) neu überdacht und verstärkt“ werden müssten. Quelle: dpa
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Quelle: dpa

Der Westen ist nicht untergegangen. Er wird auch nicht untergehen, weil das Vereinigte Königreich am Ende nicht wirklich aus der Europäischen Union austreten wird. Das Wahlvolk ist aufgewacht und hat erkannt, dass es zum einen von seinem Wahlrecht nicht Gebrauch gemacht hat (das sind die jungen Nichtwähler) und das andere sind die Prothesen-Wähler, die lernen mussten, dass Nigel Farage ihnen kein goldenes Hüftgelenk spendieren wird. 

Der Westen geht dann unter, wenn Politiker wie Boris Johnson oder Viktor Orban in ganz Europa an die Macht kommen. Ihnen fehlt die innere Spannkraft, um eine liberale Demokratie wie die Europäische Union am Leben zu erhalten.

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