Es gibt eine Anekdote, die Christine Lagarde gerne Journalisten erzählt, sie hat mit einem deutschen Mann zu tun. Am Morgen ihres 57. Geburtstages, so erinnert sich die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), klopfte es an ihrem Hotelzimmer in Mauritius, wo Lagarde gerade mal wieder die Welt zu retten versuchte. Und was war zu sehen im warmen Inselstaat, rund 10 000 Kilometer Luftlinie entfernt vom kalten Berlin? Ein wunderschöner Blumenstrauß, garniert mit einer handgeschriebenen Notiz, von „meinem Freund Wolfgang Schäuble“.
Es ist nicht weiter bemerkenswert, dass Lagarde, mittlerweile 59, diese Anekdote so mag. Bemerkenswert ist eher, dass Lagarde so oft von ihrem „Freund“ Schäuble spricht. Denn diese Häufigkeit bildet einen hübschen Kontrast zu der Zahl, wie oft sie über ihre Freundin Angela Merkel spricht; nämlich nicht allzu häufig. Die IWF-Chefin steht in der Euro-Krise seit Jahren an Merkels Seite, aber richtig vertraut hat Lagarde der vielleicht einzigen Frau auf der Welt mit noch mehr Macht nie.
Das sagen Analysten zur Lage Griechenlands
"Letztendlich entscheidet das Referendum am Sonntag darüber, ob Griechenland in der Währungsunion bleibt. Wenn sich die Griechen dafür aussprechen, kann die Staatengemeinschaft ein solch demokratisches Votum nicht übergehen. Dann werden die Verhandlungen wieder aufgenommen. Bei einem negativen Votum kommt es dagegen zum Grexit. (...) Bis dahin tobt ein Nervenkrieg. Die Kapitalverkehrskontrollen reichen zunächst erst einmal aus, um das Schlimmste zu verhindern. Aber die Kontrollen behindern die Wirtschaft, ebenso wie die von der Syriza geschaffene Unsicherheit. Das ist wirtschaftlich ein verlorenes Jahr für Griechenland. Für Deutschland spielt das keine Rolle. Nicht einmal ein Prozent der deutschen Exporte gehen dorthin."
„Natürlich wird der Dax zunächst leiden, aber fundamental ist die Wirtschaft in Takt (...) Der Rückschlag wird nicht von Dauer sein."
"Für Griechenland wird es jetzt ganz schwierig. Europa versucht, den Schaden für andere Euro-Länder zu begrenzen. Das wird mit großer Wahrscheinlichkeit gelingen. Die EZB hat bereits erklärt, dass sie die Lage an den Finanzmärkten genau verfolgt und notfalls eingreifen wird. Bei größeren Turbulenzen, die der Konjunktur gefährlich werden könnten, könnte die EZB ihre Anleihekäufe zeitlich nach vorne ziehen oder aufstocken. Sie könnte auch Anleihen bestimmter Länder wie Spanien und Italien früher kaufen. Sie könnte noch deutlicher darauf verweisen, dass es das ultimative Sicherheitsprogramm - das sogenannte OMT-Programm - auch noch gibt."
"Mit einer solchen Wendung haben nur wenige gerechnet. Kapitalverkehrskontrollen, vor allem aber die hohe Unsicherheit der kommenden Wochen und Monate dürften die letzte Hoffnung auf eine wirtschaftliche Erholung in Griechenland zunichte machen. Ein Staatsbankrott Griechenlands bedeutet nicht automatisch Grexit. Im besten Fall könnten die Entwicklungen dieser Tage nun dazu führen, dass Europa einen Insolvenzmechanismus für Staaten entwickelt - ganz so, wie die erste Griechenlandkrise vor fünf Jahren zu einem Rettungsmechanismus für Staaten führte. Spannend bleibt, ob und wie andere populistische Kräfte in Europa von den Entwicklungen profitieren. Die Polarisierung zwischen etabliertem Lager und Populisten dürfte in den kommenden Monaten weiter steigen."
"Weder der Grexit noch die Staatspleite sind zwingend. Es hängt sehr davon ab, wie das Referendum ausgeht. Wenn es zu einer Ablehnung kommt, wäre Griechenland auf schiefer Ebene unterwegs in Richtung Euro-Abschied. Die EZB hat die Kapitalverkehrskontrollen praktisch erzwungen, indem sie die Notfallkredite an griechische Banken nicht weiter erhöht hat. Wenn die EZB sie wieder aufstockt nach einem positiven Votum der Griechen, dann wären sie in diesem Umfang nicht mehr notwendig. Die Folgen für die Wirtschaft sind sehr negativ. Durch die Kapitalverkehrskontrollen werden die Geschäfte von Unternehmen und deren Abwicklung über die Banken behindert. Das dürfte die Konjunktur weiter beschädigen.
Die direkten Folgen für die Wirtschaft in der Euro-Zone und Deutschland dürften begrenzt sein - Griechenland ist zu klein, die Handelsverflechtungen zu gering. Man muss aber abwarten, wie stark die Marktturbulenzen sein werden. Denn die könnten auf die Realwirtschaft durchschlagen."
Zu Recht. In den vergangenen Wochen, da die Kanzlerin um Zustimmung für ihr drittes Griechenhilfspaket werben musste, war nämlich mal wieder hautnah zu erleben, wie „Merkel den IWF für ihre Zwecke missbraucht“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb – mit bitteren Folgen für dessen Chefin. Lagarde muss sich 2016 zur Wiederwahl stellen, ist intern aber durch ihr Mitwirken am Ringen um Griechenland so angeschlagen, dass nur wenige ihr eine zweite Amtszeit zutrauen. „Es gibt eine lange Liste von Männern, deren Karriere Merkel ruiniert hat“, sagt ein Berliner Kenner. „Christine Lagarde könnte die wichtigste Frau werden.“
Merkel entwaffnet Kritiker
Zwar lehnt Merkel einen von Lagarde geforderten offenen Schuldenschnitt für Griechenland bislang entschieden ab, aber dennoch kam sie IWF-Forderungen nach Schuldennachlass für das bankrotte Griechenland zuletzt scheinbar entgegen. Die CDU-Chefin raunte auf einmal vom „Spielraum“, den es bei Zinssätzen und Laufzeiten der Griechenlandkredite gebe, bis zu 60 Jahre könnten die dauern. Statt wie bislang geplant in zehn Jahren soll Griechenland deutlich später anfangen, Zinsen zu zahlen. Käme es dazu, könnte der IWF im Herbst doch noch ohne Gesichtsverlust entscheiden, weiter in Athen mitzumischen.
Nur: Merkel schlägt die neuen Töne aus demselben Grund an, mit dem sie einst darauf drang, den Fonds überhaupt ins EU-Krisenmanagement einzubeziehen. Dessen scheinbar unbestechliche Erfahrung im Krisenmanagement sollte als geliehene Legitimation dienen, so wie Unternehmenschefs gerne McKinsey mit dem Überbringen unangenehmer Wahrheiten beauftragen.
Es ging der Kanzlerin nicht in erster Linie darum, den Griechen zu helfen (die über hohe IWF-Zinsen stöhnen) oder gar Lagarde zu stärken – sondern den Währungsfonds als Schutzschild zu nutzen, um heimische Kritiker am Euro-Rettungskurs zu entwaffnen.
Dieses Schutzschild zückten Merkels Leute auch in den vergangenen Tagen, als sie erneut suggerierten, Griechenlands Kredite würden dank des IWF wenigstens nur 60 Jahre gestreckt und nicht Hunderte, wie es Franzosen und Italiener vorschwebten.
Und wieder mal scheint der Lagarde-Joker Merkel geholfen haben. Zwar stimmten 63 Unionsabgeordnete am Mittwoch im Bundestag gegen das dritte Hilfspaket für Athen, 17 Skeptiker aus der CDU/CSU blieben der Abstimmung fern, drei enthielten sich. Aber die befürchtete Revolution blieb aus, Merkel kam mit einem blauen Auge davon.
Viele fühlen sich vereinnahmt
Und Lagarde? „Die Stimmung gegen sie im Fonds ist katastrophal“, sagt ein IWF-Insider. Manche Mitgliedstaaten dort sind sauer über zu viel Großmut gegenüber den (vergleichsweise) reichen Europäern. Gerade Asiaten und Afrikaner wollen ohnehin seit Jahren einen der ihren an der Spitze der Institution.
Andere zürnen, dass Griechenlands ausbleibenden Kreditzahlungen das IWF-Budget schmälerten. Viele fühlen sich aber auch vereinnahmt von deutscher Sparstrenge, die der Fonds eigentlich hinter sich gelassen hat. Dessen Chefökonom Olivier Blanchard hat schon 2013 gewarnt, zu harte Sparprogramme würgten das Wachstum ab.
Noch gibt es zwar Hoffnung für Lagarde. Amerika will keine Debatte über ein Ende der europäischen Dominanz beim IWF, denn dann könnte auch das amerikanische Abo auf den Weltbank-Chefposten wackeln. Und in Berlin heißt es: „Wir setzen das Programm mit Athen wie geplant durch, damit helfen wir ja auch Lagarde.“
Aber die IWF-Chefin könnte ihre internen Kritiker nur mit echten Fortschritten in Griechenland besänftigen. Das 29 Seiten lange Dokument der Troika zum neuen Hilfspaket enthält zwar viele sinnvolle Reformvorschläge, aber wenige neue. Gemeinsam mit der Weltbank soll die griechische Regierung etwa bei Sozialausgaben Einsparungen von einem halben Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Jahr ausfindig machen. Bereits im September muss die griechische Regierung einen Plan für ein Mindesteinkommen ab April 2016 vorlegen.
Griechenlands Rentensystem ist teuer
Nur: Eigentlich hätte die Sozialhilfe als Pilotprojekt in Griechenland schon Anfang 2014 beginnen sollen, die vollständige Einführung war für dieses Jahr geplant. Auch beim Rentensystem, das bisher Ausgaben aus dem Staatshaushalt mit annähernd zehn Prozent des BIPs ausmacht, dringt die Troika schon lange auf Veränderungen. Im offiziellen Dokument zum dritten Programm gibt sie allerdings zu, dass Veränderungen nur sehr halbherzig umgesetzt wurden.
„Die Rentenreformen von 2010 und 2012 würden, bei vollständiger Umsetzung, die längerfristige Tragfähigkeit des Rentensystems insgesamt erheblich verbessern“, heißt es darin. „Allerdings ist das Rentensystem noch immer fragmentiert und teuer.“
Erhebliche Zweifel sind auch beim avisierten Verkauf von griechischem Staatsbesitz angebracht, den Finanzminister Schäuble als neues Wundermittel preist. „Eine signifikant gestärkte Privatisierungsstrategie soll ein wichtiger Eckpunkt des Programms werden“, kündigte er an, nachdem Deutschland beim Euro-Gipfel Mitte Juli einen Privatisierungsfonds durchgesetzt hatte. Doch eine neue Struktur garantiert noch lange keine zusätzlichen Einnahmen, und das Volumen von 50 Milliarden Euro, das der Fonds über die Laufzeit der Kredite erreichen soll, ist aus der Luft gegriffen.
2011 hatte die Troika diese Summe zum ersten Mal in ihren Papieren erwähnt, damals mit dem Zieldatum 2015. Bis heute belaufen sich die Privatisierungserlöse auf gut vier Milliarden Euro – was ein Gefühl dafür gibt, um was für einen schwerfälligen Prozess es sich handelt. Ursprünglich war der Betrag von 50 Milliarden eher willkürlich aufgetaucht, weil es sich dabei um eine Finanzierungslücke handelte. Die sollten Privatisierungserlöse füllen.
Schätzung nach oben revidiert
Bis 2017 rechnen die Europäer nun mit Verkaufserlösen von 6,4 Milliarden Euro. Damit haben sie eine frühere Schätzung nach oben revidiert, in der bis 2022 nur von vier Milliarden Euro die Rede war. Woher der plötzliche Optimismus rührt, ist nicht bekannt. Der IWF kalkuliert nur mit Privatisierungserlösen von 1,5 Milliarden Euro.
Die Troika argumentiert, dass die griechische Regierung einen Anreiz hat, stärker als bisher zu privatisieren, weil ein Viertel des Erlöses in Investitionen zurück ins Land fließen soll. Aber es muss sich erst noch herausstellen, ob dieser Anreiz stärker ist als die Abneigung gegen Privatisierungen, die auch ideologische Gründe hatte.
Funktionieren kann das dritte Hilfspaket nur, wenn die griechische Wirtschaft wieder dauerhaft wächst. Dazu findet sich im neuen Programm allerdings wenig. Vorgesehen ist die Öffnung von Produktmärkten, doch die wirkt sich erst mit Verzögerung auf das Wachstum aus. Ohne Wachstum schwindet allerdings die Hoffnung, dass Griechenland auf eigenen Beinen stehen kann.
Die Europäer rechnen damit, dass die griechische Wirtschaft in diesem Jahr um 2,3 Prozent und im kommenden um 1,3 Prozent schrumpft.
Warum sollte beim dritten Rettungsprogramm alles anders werden?
Generell stellt sich beim dritten Programm die Frage, warum diesmal alles anders werden sollte. Schon in den beiden ersten Programmen hatte die Troika Geld gegen das Versprechen von Strukturreformen überwiesen. Doch über diese Reformen sagt IWF-Chefökonom Blanchard: „Viele wurden gar nicht oder in einem nicht ausreichenden Umfang umgesetzt.“ Konkret nennt er den Umbau der Finanzbehörden: „Versuche, die Steuereintreibung und die Zahlungsmoral zu verbessern, sind komplett gescheitert.“ Schon unter der Vorgängerregierung fanden nur fünf von zwölf geplanten Überprüfungen des Programms statt, die letzte im Sommer 2014. Es gab schlicht zu wenig Fortschritt, der zu überwachen war.
Thomas Eigenthaler, Vorsitzender der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, sagt: „Selbst wenn die Griechen nun wollen, brauchen sie mindestens zehn Jahre, um eine funktionierende Steuerverwaltung aufzubauen.“ Dafür brauche es etwa intensive Schulungen griechischer Beamter, wie sie Deutschland immer wieder angeboten hatte.
Davon kann aber keine Rede sein. So konnte 2012 je ein einziger deutscher Experte für Betriebsprüfung, für Steuervollstreckung und Verrechnungspreise kurze Schulungen durchführen, bei Steuerprüfungen kamen immerhin zwei Experten zum Einsatz. Auch 2013 ließen sich die in Anspruch genommenen Fachleute an einer Hand abzählen. Das Finanzministerium erklärt dazu: „Bundesfinanzminister Schäuble hat in Abstimmung mit seinen Finanzministerkollegen der Länder immer wieder das Angebot der deutschen Finanzverwaltung bekräftigt, weitere Finanzbeamte zur Unterstützung der griechischen Steuerverwaltung zu entsenden.“
Soll wohl heißen: The same procedure as every program. Das weiß mittlerweile wohl auch Lagarde. Als die Euro-Finanzminister gerade in Brüssel das Hilfsprogramm verhandelten, wollte die IWF-Chefin erst teilnehmen. Doch dann meldete sie sich per Videoschalte. Zu viel Nähe zu Europa, weiß sie längst, kann sehr gefährlich sein.