Die hellrote Flüssigkeit schwappt zum Glasrand hoch. Schwenken, riechen, schmecken, spülen – und wieder ausspucken. Stellios Boutaris probiert den neuesten Cuvée der Kellerei Kir-Yanni. »Der wird was!«, freut er sich über den entstehenden Rosé-Sekt, mit dem er Nordeuropa erobern will. »Deutschland ist ein Sektland, da werden sich Käufer finden.«
In dem Örtchen Yannakohori, eine Stunde westlich von Thessaloniki, kann man den Optimismus verstehen. Über dem Weingut Kir-Yanni liegt eine sanfte Wintersonne. Wellenförmig steigen die Weinberge zum Vermio-Gebirge hoch. Über dem schwachen Grün und Grau der Hänge liegt Schnee auf den Höhen, irgendwo da oben der Skiort Seli.
Hier entsteht das, was Stellios Boutaris für das Geschäftsmodell Griechenlands hält: »Das, was wir können, richtig gut machen.« Einen guten Wein zum Beispiel. Retsina, der berüchtigte Kehlenkratzer vom Griechen um die Ecke – das war gestern. Kir-Yanni beliefert Spitzenrestaurants in Athen, Thessaloniki – und zunehmend auch Kunden im Ausland. »Wir produzieren in Griechenland weniger Billigfusel als früher, sondern guten Wein, für den immer mehr Leute einen guten Preis zahlen«, sagt der 47-jährige Boutaris. Kir-Yanni wird zur Marke.
Neue Initiativen fernab der Hauptstadt
Das neue Griechenland entsteht in diesem mazedonischen Dorf und in den Straßen der Bezirkshauptstadt Thessaloniki – getragen von jenen Griechen, die nicht mehr auf den Staat hoffen. Vielleicht ist es deshalb in Athen so schwer zu finden. Zwischen den Gewerkschaftsbossen von gestern. Den korrupten Politikern, die Reformen aus Klientelinteresse hintertreiben.
Das neue Rettungspaket für Griechenland
Schon im vergangenen Juli hatten die Europartner Griechenland ein zweites Rettungspaket zugesagt. Nach vier weiteren EU-Gipfeln und einem letzten, 13-stündigen Verhandlungsmarathon der Finanzminister bis zum Dienstagmorgen stehen die Einzelheiten fest.
Die Privatgläubiger erlassen Griechenland 53,5 Prozent der ausstehenden Kredite. Wenn sich ausreichend Banken beteiligen, sinkt die Schuldenlast um 107 Milliarden Euro.
Der Rest der Privatschulden wird in neue Anleihen mit Laufzeiten von elf bis 30 Jahren umgetauscht. Dafür erhalten die Banken geringe Zinsen von zwei bis 4,3 Prozent. Insgesamt spart Athen dadurch in den kommenden acht Jahren 150 Milliarden Euro ein.
Die internationalen Geldgeber „versüßen“ den Banken den Schuldenumtausch, indem sie die neuen Anleihen mit 30 Milliarden Euro absichern.
Athen erhält neue Notkredite von 100 Milliarden Euro. Ob der Internationalen Währungsfonds (IWF) davon - wie bei den Programmen für Portugal und Irland - jeweils ein Drittel übernimmt, ist noch nicht klar. IWF-Chefin Lagarde will den Beitrag auch davon abhängig machen, ob die Eurozone ihren dauerhaften Rettungsfonds aufstockt.
Die nationalen Notenbanken geben die Gewinne aus ihren Griechenland-Krediten an Athen zurück. Das soll die Schuldenlast Athens um 1,8 Prozentpunkte senken.
Die Zinsen für die bereits gewährten Notkredite werden auf 1,5 Prozentpunkte oberhalb des Euribor gesenkt.
Der Schuldenerlass und die neuen Finanzspritzen sollen es Athen ermöglichen, seine Gesamtverschuldung bis 2020 von mehr als 160 auf 120,5 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung zu senken.
Ein Teil der neuen Kredite fließen auf ein Sperrkonto, damit Athen seine anfallenden Schulden künftig auch zurückzahlen kann. Der Schuldendienst hat Vorrang vor anderen Staatsausgaben. Auf dem Konto muss ausreichend Geld für die Schuldentilgung der folgenden drei Monate liegen.
Die Umsetzung des Spar- und Reformauflagen wird von Experten der EU-Kommission permanent in Athen überwacht. Deutschland ist bereit, dazu Fachpersonal zu entsenden.
Den Abgeordneten, die Millionen Euro im Ausland bunkern. Den Staatsangestellten, die sich ein Leben jenseits des geheizten Büros nicht vorstellen können. Besuchen wir jene Griechen, die auf eigene Rechnung leben wollen.
Dieser Mann hat erst im Rentenalter in das warme Büro der Stadtverwaltung von Thessaloniki gefunden. Yannis Boutaris ist der Vater von Stellios. Bis vor wenigen Jahren hatte er das von ihm 1996 begründete Weingut selbst geleitet. Dann ging der heute 69-Jährige in die Politik, stellte sich zur Wahl und wurde vor gut einem Jahr zum Bürgermeister der zweitgrößten griechischen Stadt gewählt.
Als erfolgreicher Geschäftsmann, als einer, der aus eigener Kraft lebt, als Antipolitiker. Das sieht man. Der Bürgermeister trägt in seinem geräumigen Büro mit Ägäisblick als einziger Mann keine Krawatte. Er hat einen schwarzen Designeranzug angelegt, dazu einen kleinen Ohrknopf zur runden Brille, ultrakurze Haare, knallrote Socken, einen tätowierten Salamander auf der Hand.
Auf die kleinen Dinge konzentrieren
Yannis Boutaris ist bei den Bürgern und EU-Besuchern beliebt. Das hat mit seinen Reformen zu tun. In der Stadtverwaltung fegt Boutaris aus, lässt die Zahl der Direktorate verringern, lässt erstmals eine Arbeitsplatzbeschreibung für jeden Stadtangestellten anfertigen. Damit man weiß, wer wofür gebraucht wird. »Das ist meine größte Herausforderung!«, sagt er. Doch man erwartet auch recht viel von ihm. Man erwartet, dass er den frustrierten Thessalonikern neue Horizonte öffnet.
Diese Stadt am Mittelmeer war einmal das Manchester Mazedoniens. Aber die Textilfabriken, Ledermanufakturen, Strickereien, Wollfärbereien wanderten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den neunziger Jahren nach Norden ab, nach Exjugoslawien und Bulgarien. Der von deutschen Ministern öffentlich angeregte Euro-Austritt Griechenlands hilft da wenig. Denn die billigen Massenprodukte zum Export hätte Thessaloniki gar nicht zu bieten.
Wovon also soll die zweitgrößte Stadt Griechenlands künftig leben? Die Billigproduktionsidee hält Boutaris für ebenso untauglich wie das bisher viel zu lang gepflegte griechische Entwicklungsmodell des fremdgesponserten Konsums. »Small is beautiful!«, ruft er. Die Griechen sollten sich auf die kleinen Dinge konzentrieren, die sie gut beherrschen, und diese dann wirklich auch exzellent herstellen.
"Wir verkaufen unsere Produkte nicht gut genug"
Gleich, ob sie in den Weinbergen, in der Obstwirtschaft, in den Olivenhainen, in Solarfarmen oder hinter der Hotelrezeption stehen. »Wir verkaufen uns und unsere Produkte nicht gut genug.« Boutaris regt an, von den Italienern zu lernen, die Qualität und Marken pflegen würden. Ein Großteil des besten griechischen Olivenöls geht nach Italien und wird dem »reinen italienischen« Öl beigemischt. »Das müssen wir selbst machen«, sagt Boutaris.
Da stimmen viele zu. Auf einem Wirtschaftskongress nicht weit vom Bürgermeisteramt versammeln sich Unternehmer aus Nordgriechenland. Hier ist wenig zu hören von dem Athener Gejammer über die Programme der EU und des Internationalen Währungsfonds. Es ist ein Kongress gegen die erstarrte Hauptstadt Athen, gegen den handlungsunfähigen Zentralstaat, eine liberale Kritik an verfetteter Administration. Die Redner holen aus gegen die Politiker der großen Parteien, die seit Jahren Reformen sabotieren, gegen die Klientelwirtschaft, gegen die sinnlose Verschwendung von EU-Ressourcen.
»Der Staat ist unsere Krise«, sagt der Wirtschaftsprofessor Moise Sidoropoulos. Auf der Bühne fordern Redner, die Griechen sollten aufhören, »von einem warmen Staatsjob zu träumen«. Manche schlagen vor, die EU solle Beamte in die griechischen Ministerien entsenden, andere empfehlen ihrem Land als Unterstützung Berater aus Amerika. Die Art des Wirtschaftens solle sich ändern.
»Wir wollen keine Geschäftsleute, die staatlichen Schutz suchen, wir wollen Unternehmer, die auf den Markt gehen und kämpfen«, ruft einer. Das klingt richtig mutig. Was wäre denn der Markt der Griechen?
Bild im Ausland auffrischen
Moise Sidoropoulos präsentiert eine respektable Liste. Die großen Flotten griechischer Reeder müssten durch Senkung von Steuern und Abgaben nach Griechenland zurückgeholt werden – Schifffahrt als Wachstumsfaktor. Die Erzeugung alternativer Energie solle ins Land: Wind und Sonne habe Griechenland im Überfluss. Griechenland verfüge über eine kleine, aber schlagkräftige Pharmaindustrie, die sich auf Generika spezialisiert habe.
Die Landwirtschaft müsse mehr Qualitätsprodukte exportieren, Fischfarmen müssten die überfischten Meere entlasten. Der wichtigste Wirtschaftszweig aber sei der Tourismus. Die Ressource ist die Schönheit des Landes.
Das sieht Yannis Boutaris ganz genauso. Als Bürgermeister versucht er, das etwas unscharfe Bild von Thessaloniki im Ausland aufzufrischen. Festivals, Kulturereignisse und gezielte Tourismuswerbung sollen mehr zahlungskräftige Ausländer in die Stadt bringen. »Die billigste Investition in die Wirtschaft Griechenlands ist der Tourismus, weil wir die wichtigsten Dinge schon haben.«
Anschauungsunterricht in Deutschland
Boutaris wuchert mit der reichen Vergangenheit, auch mit den Hinterlassenschaften der Römer und Byzantiner: antiken Kirchen, Triumphbögen, Amphitheatern, Stadtmauern. Bis 1913 gehörte Thessaloniki zum Osmanischen Reich. Bis zur Ermordung durch die Deutschen lebten viele Juden in Thessaloniki. Also wirbt Boutaris speziell um Türken und Israelis.
Er überzeugte Fluggesellschaften, direkte Verbindungen aus Istanbul und Tel Aviv einzurichten. Die Besucherzahlen steigen rapide. Er versucht, Kreuzfahrtschiffe anzulocken. Neulich besuchte Boutaris Hamburg, um von dessen Erfolgen mit großen Pötten zu lernen.
Doch in Deutschland fand er noch mehr Nachahmenswertes. Während viele Athener Politiker guten Rat aus der EU irgendwie als lästig empfinden, schaute sich Boutaris die Müllwirtschaft deutscher Städte an. Für die Lösung des Müllproblems in Thessaloniki hat er wenig vorzuweisen. Die Müllfrage dürfte für seine Wiederwahl jedoch genauso entscheidend werden wie die wirtschaftliche Wiederbelebung der Stadt.
Boutaris, der Selfmademan, hält nicht zuletzt eine bessere Ausbildung für überlebenswichtig. Die Herstellung von landwirtschaftlichen Spitzenprodukten etwa erfordere entsprechendes Know-how. Dazu müsse man nicht an der Universität promovieren. Aber: »Wir brauchen Fachhochschulen und Berufsschulen – wie in Deutschland«, sagt Boutaris.
Vorbild USA? Das war einmal
Früher, lange Zeit vor Boutaris, waren einmal die USA das Vorbild. So ist denn auch die einzige landwirtschaftliche Berufsschule in der Großstadt die American Farm School. Gegründet wurde sie 1904 von einem US-Missionar aus Pennsylvania, heute ist sie so etwas wie das Agrikultur-Harvard Griechenlands. Die Absolventen dieser Schule finden alle einen Job, viele haben erfolgreiche Unternehmen gegründet.
Deshalb ist die Farm School hoch gefragt, die Auswahl streng. Zu lernen sind Fächer wie Käserei, Biolandwirtschaft, Gartendesign, Pilzkultivierung, Winzerei, Schneckenzucht und vieles mehr.
Griechischen Wein in China verkaufen
Also: zurück aufs Land? Der Ausbildungsdirektor der Farm School, Vangelis Vergos, wehrt ab. »Landleben ist harte Arbeit, das Dorfleben setzt enge Grenzen, die für Menschen aus der Stadt schwer erträglich sind.« Eine Mischung hat vielleicht mehr Zukunft: arbeiten auf dem Land, leben in der Stadt. Yannis Boutaris steht dafür. Der langjährige Winzer ist ein Stadtmensch.
»Ich liebe Abgase«, witzelt er. Für die Mischung aus Idylle und Moderne steht auch das Weingut Kir-Yanni. Sein Sohn hat mit einem knorrigen griechischen Landwirt nichts mehr zu tun. Natürlich muss der Wein angebaut, gepflegt, geerntet, gekeltert, kultiviert werden. Aber daneben jagt Stellios Boutaris über Weinmessen in Europa und Amerika.
Zukunftsszenarien für Griechenland
Die Eurogruppe billigt einen Schuldenschnitt, die Banken erlassen dem Land daraufhin 100 Milliarden Euro. Somit gibt es auch grünes Licht für weitere Hilfen der Eurozone in Höhe von insgesamt 130 Milliarden Euro. Die Europäische Zentralbank (EZB) füllt eine Finanzlücke, damit Griechenlands Schuldenstand bis 2020 wie angepeilt sinken kann. Im Gegenzug unterwirft sich Griechenland einer strikten Überwachung der EU und gibt Kompetenzen in der Haushaltspolitik ab. Das Land leidet noch jahrelang unter Einsparungen, innenpolitischer Unruhe und Rückschlägen. Der Weg zu einer Erholung ist lang und mühsam.
Die Eurozone will zunächst keine weitere Hilfe zusagen. Problem ist der für 2020 trotz Hilfspaket und Gläubigerverzicht erwartete Schuldenstand von 129 Prozent der Wirtschaftskraft, anstatt der angestrebten 120 Prozent. Der Rettungsplan muss also überdacht werden. Zudem wählen die Griechen im April. Die Euro-Länder wollen das Votum abwarten und mit den dann regierenden Parteien Vereinbarungen über Einsparungen und Reformen treffen, bevor sie weiteres Geld überweisen. Mit restlichen Mitteln aus dem ersten Hilfsprogramm wird ein im März drohender Bankrott vorerst verhindert.
Nach zwei Jahren Schuldenkrise nimmt die Eurozone einen Kurswechsel vor: Griechenland soll kontrolliert in die Pleite geführt werden, jedoch in der Eurozone bleiben. Nun kommen Milliardenkosten nicht nur auf die privaten Gläubiger, sondern auch auf die EZB zu: Athen ändert per Gesetzesänderung die Haftungsklauseln für seine Staatsanleihen - und erzwingt einen Verzicht. Die EU arbeitet an einem finanziellen und wirtschaftlichen Neustart des Landes, der ebenfalls viel Geld kostet.
Der Rettungsplan scheitert, die Griechen haben zudem Vorschriften und Kontrolle der Euro-Länder satt. Das Land erklärt seinen Bankrott und die Rückkehr zur Drachme. Wirtschaft und Finanzbranche werden über das Land hinaus erschüttert, Firmen und Banken gehen pleite. Die Kaufkraft der Griechen nimmt massiv ab, soziale Unruhen sind die Folge. Mit der Drachme sind griechische Produkte auf dem Weltmarkt zwar billiger, ein positiver Effekt auf die marode Wirtschaft zeigt sich jedoch nur sehr langsam. Die Europäische Union bemüht sich mit Konjunkturprogrammen, den weiteren Absturz des Landes zu mildern.
Seinen Wein will er nun auch nach China verkaufen. Längst hat er das E-Shopping über das Internet eingeführt. Der Kir-Yanni-Tropfen kommt künftig per Mausklick ins Haus.
So könnte das neue Griechenland aussehen. Wenn die Rechnung aufgeht.