Maria Psani, 42 Jahre alt, sitzt vor ihrem Computer in ihrer kleinen Wohnung, nur wenige Gehminuten bis zum Athener Parlament am Syntagma-Platz, wo in diesem Moment mehrere zehntausend Griechen erneut gegen die Sparauflagen der Regierung protestieren. Maria lernt seit zehn Jahren Deutsch im Athener Goethe-Institut. Auf einer Jobseite klickt sie sich durch die Angebote deutscher Unternehmen.
Sie will auswandern: „Hier in Griechenland gibt es einfach keine offene Stellen und wir haben nicht mehr lange Anspruch auf eine staatliche Hilfe.“ Psani ist seit eineinhalb Jahren arbeitslos. Derzeit lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann Costas Tzimas von dessen Arbeitslosenunterstützung. 350 Euro haben die beiden zur Verfügung, um allmonatlich Versicherungen, Stromrechnungen und Lebensmittel zu bezahlen. Daneben haben sie einen Kleinkredit, den sie abzahlen müssen. Das Arbeitslosengeld von Tzimas läuft im September aus, danach erhalten die beiden keine weitere Unterstützung des Staates.
Arbeitslosenquote auf Rekordstand – Jeder vierte Grieche ohne eigene Einkünfte
Die Arbeitslosigkeit in Griechenland befindet sich auf einem Höchststand. Nach einer Statistik des Griechischen Statistischen Amts hat sich die Zahl der Arbeitslosen von 449.700 im Oktober 2009, und damit dem Beginn der griechischen Krise, auf 1,3 Millionen im Dezember 2012 mehr als verdoppelt. So lag die Arbeitslosenquote im ersten Quartal 2013 bei 27,2 Prozent, wie das Statistikamt berechnete – den höchsten Wert aller Industriestaaten.
Mehr als jeder vierte Grieche ist also ohne Arbeit. Zum Vergleich: Im Herbst 2009 waren lediglich 7,7 Prozent der Deutschen arbeitslos. Im März dieses Jahres schrumpfte die Arbeitslosenquote laut der Bundesagentur für Arbeit auf 7,3 Prozent.
„Ich habe schon zahlreiche Bewerbungen nach Deutschland, aber auch nach Dubai geschickt“, erklärt Maria Psani, während sie sich weiter durch die Jobangebote klickt. Auch Unternehmen in Griechenland haben ihre Unterlagen bekommen: Von keinem bekam sie eine Antwort. „Wir würden gerne hier in Athen bleiben“, so Psani, „wissen aber nicht wie wir hier weiter überleben können.
Nach nur einem Jahr ist Schluss mit der Sozialhilfe
“Deshalb ist sie fest entschlossen zu emigrieren: „Am liebsten würden wir nach Deutschland, deswegen lerne ich auch die Sprache“, sagt Psani. Eine Einladung des Frankfurter Flughafens zum Bewerbungsgespräch musste Psani ablehnen. Sie konnte das Geld für die Anreise nicht aufbringen.
Der griechische Staat kümmert sich bei Arbeitslosigkeit nur ein Jahr um die betroffenen Personen. Sollte danach kein neuer Job gefunden sein, zahlt die hellenische Regierung keine weitere Unterstützung. Für Sozialprogramme fehlt das Geld. Trotz aller Sparprogramme betrug das Haushaltsdefizit 2012 sage und schreibe 10,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Eine Sozialhilfe oder „Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten und Hilfe in anderen Lebenslagen“, wie es im deutschen Sozialgesetzbuch heißt, gibt es in Griechenland nicht. Was verschärfend hinzukommt: Ohne ein Einkommen, auch durch Transferleistungen, erlischt der Versicherungsschutz der Krankenkasse.
Um jedoch einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu haben müssen Arbeitnehmer mindestens zwei Jahre in die Sozialkassen des Landes eingezahlt haben. Anwälte, Ärzte, Ingenieure, die meist als Selbstständige ihr Geld verdient haben, gehen im Falle einer Arbeitslosigkeit damit leer aus. Somit stehen viele Griechen nach einem Jahr erfolgloser Arbeitssuche vor der Situation, keinerlei Einkommen oder Transferleistungen zu erhalten.
Athanasios Kaltabanis ist eine imposante Gestalt. Muskulöser Oberkörper, dunkler Teint. Auf den ersten Blick ungewöhnlich: In seiner Hand hält er einen Rosenkranz, dessen Perlen er unablässig durch die Finger gleiten lässt, während er von seinem Leben in der Krise erzählt. Nach seinen beruflichen Perspektiven gefragt, verschwindet das freundliche, offene Lächeln vom Gesicht des 43-Jährigen. Kaltabanis ist eigentlich Grafikdesigner bei der griechischen Boulevardzeitung „Espresso“.
Die Krise hat nun auch vormals Besserverdiener erreicht
Derzeit befindet er sich allerdings im Streik und das, aus einem guten Grund: „Wir bekommen wegen der Krise einfach keinen Lohn mehr ausbezahlt“. Bis vor einem Jahr fühlte er sich noch vollkommen unberührt von der Krise. Gemeinsam mit seiner Frau, die Journalistin bei der Tageszeitung „Adesmeftos Tipos“ ist, konnte er seine Familie mit zwei Kindern gut versorgen.
Sogar die Ausbildung des Nachwuchses in einer englischsprachigen Privatschule stellte kein finanzielles Problem dar. Dann erreichte die Krise allerdings auch das, bis dahin gut verdienende, Ehepaar. Die Verleger von „Espresso“ fingen an, die Löhne ihrer Angestellten zu reduzieren. Oft kamen die Auszahlungen mit Verspätung und in reduzierten Beträgen, wie Kaltabanis erklärt. Am Ende wurde, trotz getaner Arbeit gar kein Lohn mehr überwiesen. Während Kaltabanis erzählt, steht er vor dem Haus seines Schwiegervaters Athanasios Brenias im Athener Ortsteil Koloyos.
Kaltabanis deutet auf seinen Schwiegervater, der in diesem Moment seinen alten, lilafarbenen VW Polo mit einem kleinen Lappen zu putzen versucht. „Meine Schwiegereltern“, so Kaltabanis, „konnten bis vor kurzem gut von ihrer Rente leben.“ Mittlerweile wurde die Rente des Schwiegervaters aufgrund von Sparmaßnahmen um 400 Euro reduziert.
„Sie müssen sich auf das Allernötigste beschränken.“ Fleisch gäbe es nur noch alle paar Wochen. Auf seinem Weg nach Hause kommt Kaltabanis an einem kleinen Straßencafé vorbei, das bis auf zwei Gäste menschenleer ist. Er deutet darauf: „So etwas kann ich mir nicht mehr leisten. Sogar an Schokolade kaufen ist nicht mehr zu denken.“
Brain-Drain: Die gut Qualifizierten wandern ab
Es sind nicht nur die niedrig qualifizierten Personen, die in Griechenland sich ihren Lebensunterhalt nicht mehr selbst verdienen können. Beispiele wie das von Kaltabanis zeigen, dass auch die Mitglieder der gut ausgebildeten Mittelschicht immer häufiger ohne einen festen Job sind. Mit gravierenden Folgen: Zum einen verliert das Land wichtige Steuereinnahmen, zum anderen kann es zu einem sogenannten Brain Drain kommen, der Abwanderung von gut qualifizierten Personen in andere Länder.
Eine "soziale Explosion" droht
Eine Alternative, die auch Kaltabanis mittlerweile in Erwägung zieht: „Ich denke immer häufiger über die Auswanderung in einen Staat außerhalb der EU nach, wo die Arbeitsbedingungen besser sind.“ Er blickt auf ein heruntergekommenes Gebäude, nur wenige Meter von seinem eigenen Haus entfernt. „Ich würde am liebsten sofort ausreisen und meine Familie so bald wie möglich nachholen.“
Nach einem Jahr Arbeitslosgeld endet jegliche Unterstützung
Die Situation ist desaströs. Nicht nur der griechische Arbeitsmarkt steckt in einer schweren Krise. Selbst der nationale Träger für Gesundheitsleistungen EOPYY, welcher für die meisten Griechen als Krankenkasse fungiert, steckt tief in den Schulden. Somit müssen auch Personen, die nicht ihren Versicherungsschutz verloren haben, oftmals ihre Rechnungen von Krankenhäusern oder wichtige Medikamente aus der eigenen Tasche zahlen.
Zu groß ist die Sorge, dass EOPYY bald nicht mehr zahlen kann. Damit stehen viele Griechen vor der Gefahr der Verarmung. Die Arbeitslosigkeit steigt, neue Jobs sind rar und auch der Staat kann seinen Bürgern nicht helfen. Vor der Krise sah das anders aus: Wer arbeitslos war, konnte bis zu zwei Jahren auf staatliche Hilfe vertrauen.
Außerdem gab es wesentlich mehr freie Stellen. Mittlerweile wurde der Bezugszeitraum des Arbeitslosengeldes halbiert und die Auszahlungen selbst von 462 Euro monatlich um gut ein Drittel auf 322 Euro gekürzt. Den Hellenen droht eine „soziale Explosion“, wie der größte Gewerkschaftsverband Griechenlands (GSEE) warnt. Viele Griechen sehen nur einen Ausweg: Das Heimatland verlassen.
George Apostolopoulos sieht die Entwicklungen in seinem Land mit großer Sorge. Er ist Präsident der KYADA, einer Organisation, die sich um Obdachlose in Griechenlands Hauptstadt kümmert. Mittlerweile kommen nicht mehr nur Obdachlose zu der täglichen Suppenküche in der Sofokleusstraße in einem der ärmsten Viertel Athens. Journalisten werden an diesem Ort nicht gerne gesehen, viele ehemals wohlhabendere Athener fürchten erkannt zu werden. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern gibt er hier Tag für Tag Essen an 3800 Personen aus. Tendenz steigend.