Griechenland Wie gefährlich ist der "Grexit" für Europa?

Die griechische Regierung hat in der Nacht einen Reformkatalog vorgelegt. Reicht dieser den Gläubigern aus oder lassen sie es auf einen Grexit ankommen? Welche Auswirkungen ein Grexit auf die Europäische Union hätte.

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Ökonomen über Griechenland Quelle: Marcel Stahn

Die Zeit drängt. Um kurz nach Mitternacht verließen die wichtigsten Akteure im Griechenland-Poker das Kanzleramt. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach zunächst mit dem französischen Staatschef François Hollande und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker; später kamen auch die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde und EZB-Präsident Mario Draghi hinzu, um über Griechenlands Zukunft in der Euro-Zone zu beraten.

Noch in derselben Nacht hat die griechische Regierung laut der Nachrichtenagentur AFP den Gläubigern einen umfassenden Reformplan vorgelegt. Regierungschef Alexis Tsipras bezeichnet die Vorschläge „realistisch“, um das Land aus der Krise zu führen. Jetzt liegt es bei den Gläubigern, zu prüfen, ob sie das genauso sehen und die Reformen für ausreichend halten oder es auf einen Grexit ankommen lassen.

Welche Konsequenzen ein solcher Austritt aus der Währungsunion für Griechenland hätte, wurde reichlich diskutiert. Die Frage ist, welche Auswirkungen ein Grexit auf die Euro-Zone hätte: Würde Griechenland Spanien, Italien und andere Krisenländer mit in den Abgrund reißen? Geraten die Finanzmärkte in Panik? Und welche politischen Folgen hätte ein Grexit für die Euro-Retter, die dann kläglich gescheitert wären und den Wählern hohe Verluste erklären müssten? WirtschaftsWoche Online hat mit führenden Ökonomen über diese Fragen gesprochen.

Gibt es Aufschläge auf Anleiherendite oder kauft die EZB die Sorgen weg?

Als 2010 erstmals über einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone diskutiert wurde, gerieten die Finanzmärkte in Panik. Spanien, Italien und Co. konnten sich nur noch mit sehr hohen Zinsaufschlägen an den Anleihenmärkten finanzieren.

Von Grexit bis Graccident - die wichtigsten Begriffe zur Schuldenkrise

Dass das abermals geschieht, bezweifelt Friedrich Heinemann, der Leiter des Forschungsbereichs „Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“ am Zentrum für Europäische Finanzwirtschaft (ZEW). Anders als damals sei Europa heute auf so ein Szenario vorbereitet.

„Maßgebliche Akteure, allen voran die EZB, haben die nötigen Instrumente und werden einer solchen Entwicklung mit aller verfügbaren Feuerkraft entgegensteuern“, so Heinemann. Um eine Ansteckung zu verhindern, würden Gelder aus dem Rettungsschirm ESM in Aussicht gestellt. Der ESM unterstützt überschuldete Staaten durch Notkredite und Bürgschaften und senkt so ihre Abhängigkeit von den Finanzmärkten. „Aus den kritischen Jahren wissen wir allerdings, dass das alleine nicht ausreichend ist.“ 

Deswegen dürfte die EZB erneut in Aussicht stellen, unbegrenzt Staatsanleihen der betroffenen Staaten zu erwerben. Mit dem Outright Monetary Transaction-Programm ist das notwendige Instrument dafür vorhanden. Dass tatsächlich Geld fließt, glaubt Heinemann nicht. „Allein die Ankündigung würde die Zinsaufschläge an den Märkten verhindern.“ Eine nennenswerte Ansteckungsgefahr zweifelt er an.

„Wir können nicht seriös prognostizieren, wie sich ein Grexit auswirkt“

Weniger optimistisch als seine Kollegen zeigt sich Marcel Fratzscher, der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). „Wir können nicht seriös prognostizieren, wie sich ein Grexit auf die Finanzmärkte der anderen europäischen Länder auswirkt“, sagt er. Argumente von Kollegen, die die Ansteckungsgefahr leugnen, hält er für „unseriös“.

Er befürchtet Spekulationen über Italien, Portugal und Spanien, die trotz der zuletzt erfolgreichen Rettungspolitik immer noch in einer schwierigen Lage seien. Niemand könne die Dynamik von Finanzmärkten verlässlich vorhersagen. Und manche Investoren könnten fürchten dass Italien oder Spanien den Euro langfristig verlassen könnten.

Was droht Griechenland und seinen Banken?

Stürzen Banken durch ihr Griechenland-Engagement in den Ruin?

Als Griechenland in die Krise schlitterte, mussten die europäischen Banken gerettet werden. Damals hielten die Kreditinstitute griechische Papiere im Wert von 272 Milliarden Euro.

Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, sieht diese Gefahr nicht mehr als gegeben an, anders als noch zu Beginn der Euro-Krise 2010. „Die ausländischen Banken haben sich weitestgehend aus Griechenland zurückgezogen, sodass ein Austritt Griechenlands die Bankensysteme anderer Länder nicht destabilisieren dürfte“, so Krämer.

Griechenlands Zahlungsverpflichtungen 2015

So haben deutsche Banken beispielsweise nur noch Forderungen von 2,4 Milliarden Euro gegenüber den griechischen Banken, den Staat und Unternehmen in ihren Büchern. Insgesamt kommen die europäischen Institute laut einem Bericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich noch auf Griechen-Papiere im Wert von 34 Milliarden Euro.

Auch einen Ansturm der Bürger auf die heimischen Banken der Krisenländer wie ihn aktuell Griechenland zu spüren bekommt, wo in den ersten vier Monaten knapp 30 Milliarden Euro abgezogen worden, sieht Krämer als unwahrscheinlich an. „Die Menschen in den Krisenländern wissen mittlerweile, dass Griechenland politisch wie ökonomisch ein Sonderfall ist.“

Verkraftet die europäische Wirtschaft einen Grexit?

Während sich die meisten Ökonomen sicher sind, dass ein Grexit einen Kollaps für die griechische Wirtschaft zufolge hätte, herrscht über die möglichen Folgen für den Rest der Euro-Zone Uneinigkeit.

„Sollten die Südstaaten abermals Opfer von Spekulationen auf den Finanzmärkten werden, wird das zu einem schwächeren Wachstum in Deutschland führen“, sagt Fratzscher. Solche Spekulationen führten zu einem Vertrauensverlust bei Unternehmen und Konsumenten, und damit zu einer schwächeren Nachfrage. „Das ist der Mechanismus, der mir die größten Sorgen bereitet.“

Zwischen Streit und Einigung: Die Griechenland-Krise

Solche Auswirkungen sieht Commerzbank-Chefvolkswirt Krämer dagegen nicht. „Es würden kurzfristig Turbulenzen auf den Finanzmärkten auftreten“, sagt er. „Auf die deutsche Konjunktur dürfte das allerdings nicht durchschlagen, weil die Währungsunion stabil bleiben wird. Und Griechenland selbst ist wirtschaftlich zu klein, als es durch eine einbrechende Nachfrage die deutsche Wirtschaft nach unten ziehen könnte.“

Als Exportland ist Griechenland für deutsche Unternehmen in der Tat kaum noch relevant. Laut Auswärtigem Amt ist Griechenland aktuell nur auf Rang 40 der Importeure deutscher Waren. Im Jahr 2014 exportierten deutsche Unternehmen gerade einmal Waren im Wert von 4,96 Milliarden Euro dorthin.

Welche politische Konsequenzen hat ein Grexit?

Griechenland werde nach einem Austritt aus der Währungsunion eine „Phase des ökonomischen Chaos“ durchmachen, sagt Krämer. Viele ausländische Lieferanten dürften auf Vorkasse bestehen. Und viele griechische Unternehmen und Haushalte würden nach Einführung einer weichen Drachme nicht genügend harte Euro haben, um die teuer gewordenen Importe zu zahlen.

Ökonomen erwarten einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit, Kapitalflucht, einen Bankenkollaps. Um die beim IWF und den Euro-Partnern angesammelten Schulden zu tilgen, hat das Land in diesem Zustand nicht die notwendigen Ressourcen. Das wird die Regierungen in den Geberstaaten unter Druck setzen – allen voran die deutsche.

Diese Regierungen scheiterten wegen der Euro-Krise

Denn in diesem Fall müssten Angela Merkel und Sigmar Gabriel eingestehen, dass ein großer Teil der öffentlichen Forderungen gegenüber Griechenland nicht mehr beglichen wird – auch den anderen Geberländern ginge es so. Insgesamt 380 Milliarden Euro hat Griechenland an Subventionen, Hilfen und Krediten erhalten. „Die Rettungspolitik wäre damit gescheitert“, so Krämer.

Die Summe, um die es für die Bundesregierung geht, beziffert Fratzscher auf rund 70 Milliarden Euro. Sie umfasst Garantien die Deutschland im Rahmen der Rettungsschirme ESFS und ESM gegeben hat sowie bilaterale Kredite der KfW. Heinemann schätzt, dass die amtierende deutsche Regierung wegen des Kreditausfalls ein Haushaltsdefizit von zwei oder drei Prozent ausweisen müsste.

Das Ganze ist allerdings nur ein buchhalterischer Effekt. Die meisten Experten glaubten ohnehin nicht mehr daran, dass Griechenland noch zu einer Tilgung seiner Schulden fähig ist, die Gelder sind wohl auch ohne Grexit verloren.  

Was passiert ohne Grexit?

Weitaus schwerwiegender könnten allerdings die politischen Konsequenzen sein, wenn Griechenland trotz Verweigerung der Reformen im Euro bleibt. Denn so könnten auch die italienische und spanische Regierung beginnen, ihre Schulden nicht mehr zu begleichen und den Reformkurs zu verweigern.

Dass ein solcher Präzedenzfall entsteht, ist aus Heinemanns Sicht die größte Angst der europäischen Regierungsmitglieder. „Der Konsens ist groß, dass Griechenland für seinen Verweigerungskurs bezahlen muss“, so Heinemann.

Die größten Pleitestaaten der Welt
Norwegische Insel Quelle: dpa
Reichstag Quelle: dpa
Gracht in Amsterdam Quelle: AP
Akropolis Quelle: AP
Brunnen am österreichischen Parlamentsgebäude Quelle: dpa
Schweizer Flagge Quelle: dpa
Big Ben und Westminster Abbey Quelle: REUTERS

Das geschieht bereits: Griechenland befindet sich, nachdem 2015 erstmals seit 40 Jahren die realistische Chance bestand, kein Defizit mehr auszuweisen, wieder in einer Rezession; Investoren ziehen ihr Geld ab; das Bankensystem steht unter Druck. Das Land wurde um Jahre zurückgeworfen. „So traurig das klingt, aber das ist wichtig“, so Heinemann. „Griechenland darf nicht das strahlende Beispiel werden, dass die Spanier dazu bringt, eine ähnliche Politik zu unterstützen.“

Eurokritische Parteien wie etwa die spanische Linkspartei Podemos könnten einen möglichen Erfolg der griechischen Syriza nutzen, um bei den Parlamentswahlen 2015 ebenfalls zu versprechen, den harten Reformkurs und den Schuldendienst einzustellen und die bisherigen Schritte der amtierenden Regierung als nicht notwendig darzustellen.

Fazit

Ökonomisch sind die Folgen eines Grexits für die Europäische Union unklar. Der Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone könnte einen Schlussstrich unter die Euro-Krise setzen – allerdings sind trotz EZB-Programmen und Rettungsschirm die Risiken einer Ansteckung nach wie vor vorhanden. Die Dynamiken einer Finanzmarktpanik haben Ökonomen auch in der Vergangenheit nicht vorhersehen können, was die Lehmann-Pleite 2008 eindrucksvoll belegte.

Politisch würde ein weiteres Tolerieren des griechischen Reformverweigerungskurses unter der Führung der Syriza der Podemos-Bewegung in Spanien Rückenwind geben und der Europäischen Union Glaubwürdigkeit gegenüber den Investoren kosten.

Allerdings ist ein Grexit aus politischer Sicht ebenfalls nicht kostenlos zu haben: Ein Austritt aus der Währungsunion dürfte das Land weiter destabilisieren und es schließlich endgültig in den wirtschaftlichen Ruin treiben. Die Folge könnten weitere gesellschaftliche Verwerfungen sein. Das Land könnte im Chaos versinken. In jedem Fall wird der griechische Staat weiter Unterstützung brauchen.

Zuletzt steht fest: Auch ohne Euro wäre Griechenland vorerst ein EU-Mitglied. Die Diskussionen um die Zukunft des Landes dürfte Merkel, Hollande und Juncker also auch künftig beschäftigen.

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