Es werde keinen „Exit vom Brexit“ geben, hatte die britische Premierministerin Theresa May nach ihrer Amtsübernahme im Juli verkündet. Und tatsächlich richtet sich London darauf ein, die Europäische Union in absehbarer Zeit zu verlassen. Doch die Gegner des Austritts geben sich nicht geschlagen: Auch ein halbes Jahr nach dem Brexit-Votum, das von 51,9 Prozent der Wähler angenommen wurde, haben die „Bremainers“ noch die Hoffnung, das Schlimmste zu verhindern. Der britische Think-Tank British Influence will per Gerichtsurteil dafür sorgen, dass Großbritannien zwar die EU, aber nicht den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) verlässt.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Nach Informationen der BBC bereiten Anwälte der pro-europäischen Organisation eine Klage vor, um den Status Großbritanniens im EWR nach einem EU-Austritt prüfen zu lassen. Bisher geht die Regierung davon aus, dass Großbritannien mit der EU auch den EWR verlassen muss.
Der EWR ist eine Freihandelszone zwischen den EU-Staaten und den Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta), nämlich Island, Liechtenstein und Norwegen (das Efta-Land Schweiz ist nicht Teil des EWR). Darin gelten mitunter ähnliche Regelungen wie in der EU – wie der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital.
Entsprechend besorgt sind die Befürworter des EU-Austritts. Denn das Ende des freien Personenverkehrs, insbesondere von Arbeitskräften aus Osteuropa, war ein Kernanliegen der Brexit-Bewegung. Mit einer anhaltenden Mitgliedschaft im EWR allerdings würde sich nicht viel ändern – auch im EWR gelten beispielsweise Harmonisierungsvorschriften, die von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssten, wenn auch mit Sonderregelungen beispielsweise im Agrarsektor. Im EWR gelten rund 80 Prozent der Binnenmarktvorschriften der EU.
Die britische Regierung ist überzeugt, dass der Ausschluss aus dem EWR automatisch mit dem EU-Austritt erfolgt. In einem Brief an den britischen Brexit-Koordinator David Davis argumentieren die Anwälte von British Influence allerdings, dass die Regierung ungesetzlich handeln könnte, wenn die tatsächlichen Verhältnisse nicht abschließend geklärt seien. Sie wollen die Position Londons überprüfen lassen – notfalls vom Europäischen Gerichtshof.
May will Brexit-Abstimmung im Parlament verhindern
Die Frage lautet: Ist die EWR-Mitgliedschaft Großbritanniens unabhängig von der EU-Mitgliedschaft zu beurteilen? Lautet die Antwort darauf ja, müssten die britischen Abgeordneten noch einmal gesondert über den Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt abstimmen.
Konkret bezieht sich British Influence auf Artikel 127 des EWR-Vertrags, in dem der Ausstieg aus der Freihandelszone geregelt ist. Nach Ansicht des Think-Tanks kann nur ein Antrag nach dieser Regelung zu einem Ausschluss aus dem EWR führen. British Influence will dafür sorgen, dass das Parlament auch über Artikel 127 des EWR-Vertrags abstimmen soll – und hofft so, die schwersten Auswirkungen eines Brexits zu verhindern.
Doch schon jetzt ist unklar, ob die britischen Abgeordneten überhaupt über den Brexit abstimmen dürfen. Vor Gericht will die Londoner Regierung unter Theresa May eine solche Abstimmung unbedingt verhindern. Entsprechend zugeknöpft reagierte ein Regierungssprecher auf das Anliegen von British Influence: „Die zukünftige Beziehung zwischen Großbritannien und der EU wird in Verhandlungen entschieden. Es ist nicht in unserem Interesse, Kommentare über unsere Position in einem laufenden Verfahren abzugeben, die unsere Verhandlungsposition schwächen könnten.“
Die BBC weist zudem auf einen anderen interessanten Aspekt hin: Der Rechtsstreit könnte sich für London auch auszahlen. Sollte die EU den Briten nämlich keine attraktiven Konditionen für das künftige Verhältnis anbieten, könnte sich May tatsächlich für einen Verbleib im EWR aussprechen – zumindest für eine Übergangsphase. Denn der Rauswurf eines Staates aus dem EWR ist im derzeitigen Vertragswerk nicht vorgesehen.