Großbritannien May schwört auf historische Veränderungen ein

Die neue Premierministerin Theresa May will ein faireres und sozialeres Großbritannien. Doch die Finanzmärkte und die Wirtschaft sind nicht beeindruckt. Sie fürchten die Folgen des Brexit.

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Premierministerin Theresa May fordert große Veränderungen für Großbritannien Quelle: AP

Der Honeymoon ist vorbei, nun muss Theresa May liefern. Zum Abschluss des konservativen Parteitags in Birmingham skizzierte die Regierungschefin ihre politische Vision eines Großbritanniens außerhalb der Europäischen Union und bekräftigte, sie werde das Austrittsgesuch bis spätestens Ende März nächsten Jahres einreichen. Sie will die Quadratur des Kreises, denn sie machte erneut klar, dass die Kontrolle der Einwanderung für sie höchste Priorität genießt, gleichzeitig hofft sie aber auf einen möglichst weitgehenden Zugang zum Binnenmarkt für die britischen Unternehmen. Innenpolitisch hat sie bereits begonnen, Lehren aus dem Referendum ziehen. Sie rückt deutlich von ihrem Vorgänger David Cameron ab und propagiert nun ein neues, populistisches Regierungsmodell, das in manchen Bereichen große Ähnlichkeiten mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft deutscher Prägung aufweist.

May rückt Tories in die Mitte

May versuchte mit ihrer Rede ihre Regierung stärker in der politischen Mitte zu positionieren und der Labour-Partei damit Wähler abspenstig zu machen. Die Konservative profitiert nämlich derzeit enorm davon, dass selbst viele Labour-Anhänger den Linksruck der Arbeiterpartei unter Corbyn ablehnen und er in den Meinungsumfragen weit abgeschlagen ist. Gleichzeitig kommen ihr die chaotischen Verhältnisse bei der United Kingdom Independence Party (UKIP) zugute, deren neue Chefin Diane James am Dienstag nach nur 18 Tagen das Handtuch warf. UKIP wird nun wieder von Alt-Chef Nigel Farage geleitet, der sich allerdings nur als Übergangslösung zur Verfügung stellte. Nach seinem großen Erfolg beim EU-Referendum hatte Farage seinen Rücktritt angekündigt, doch seiner Partei droht nun der Zerfall.

Am Ende des dreieinhalbtägigen Parteitags stand weniger der Brexit im Mittelpunkt, als Mays Versprechen, von jetzt an für mehr Chancengleichheit und Gerechtigkeit zu sorgen. Als Regierungschefin werde sich nicht länger an den Bedürfnisse der Eliten orientieren, sondern die Wünsche und Nöte der Normalbürger in den Vordergrund stellen, so die Premierministerin. „Hört doch, wie abfällig Politiker und Kommentatoren sich oft über die öffentliche Meinung äußern: Sie finden Patriotismus geschmacklos, Sorgen über zu viel Zuwanderung provinziell, Angst vor Kriminalität nicht liberal und die Tatsache, dass sich 17 Millionen Briten für die Trennung von der EU ausgesprochen haben, äußerst verwirrend“, kritisierte May, die selbst aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus stammt.

"Meine Regierung ist für alle da"

Sie bekräftigte ihre Absicht, Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräte zu entsenden und betonte: „Meine Regierung ist für alle da, nicht nur für die Privilegierten“. Für Arbeiterfamilien sei das Leben in Großbritannien viel härter, als es die Politiker in Westminster realisierten, so die Regierungschefin. Leistung und harte Arbeit sei künftig entscheidend und nicht Rassenzugehörigkeit oder der Wohlstand der Familie, in die man hineingeboren sei. „Der wichtigste Slogan der Brexit-Kampagne hieß `Kontrolle zurückgewinnen`. Deshalb wird alles, was sie jetzt ankündigt, in diesen Kontext gestellt werden“ sagt die Ex-BBC-Journalistin Stephanie Flanders, die heute als Chefstrategin für Großbritannien und Europa bei JP Morgan Asset Management in London arbeitet, der WirtschaftsWoche. May signalisierte außerdem, dass sie das Wachstum in den Regionen außerhalb Londons fördern will. Flanders gibt allerdings zu bedenken, London allein trage mehr als ein Viertel zum britischen Bruttoinlandsprodukt bei, die nächstgrößten zehn Städte weitere 25 Prozent.

May schickt Pfund in den Keller

Politisch mag Mays neuer Kurs populär sein, doch an den Finanzmärkten und in der Wirtschaft macht man sich vor allem Sorgen über die potenziell negativen Folgen des bevorstehenden Austritts aus der EU. Mays markige Worte vom Wochenende, wo sie einen „harten“ Brexit und den Austritt aus dem Binnenmarkt in Aussicht gestellt hatte, führte zu panischen Reaktionen an den Finanzmärkten und ließ das Pfund prompt auf ein neues 30-Jahrestief fallen. Vor allem die Londoner City fürchtet den sogenannten „Finanzpass“ und damit den ungehinderten Zugang zu den übrigen EU-Ländern zu verlieren.

75.000 Arbeitsplätze in der Finanzbranche bedroht

Die Beratungsfirma Oliver Wyman hat errechnet, die Finanzbranche könne im schlimmsten Fall bis zu 38 Milliarden Pfund an Umsatz einbüßen. Zudem seien 75.000 Arbeitsplätze bedroht, heißt es in der Studie, die vom Branchenverband TheCityUK in Auftrag gegeben wurde. Der Chef der Londoner Börse Xavier Rolet warnte ferner davor, dass London künftig die Abwicklung von Euro-Wertpapiergeschäften verboten werden könnte: „Das könnte den Finanzfirmen Verluste von mehreren zehn Milliarden Dollar verursachen“. Es bestehe außerdem die Gefahr, dass nicht Paris, Amsterdam oder Frankfurt von der Schwächung des Finanzplatzes London profitieren werde, sondern New York.

Finanzminister Philip Hammond hatte der City zwar versprochen, sie werde auch künftig hochqualifizierte Banker und Experten aus der EU anheuern können. Doch ist völlig unklar, wie Hammonds Versprechen umgesetzt werden soll. Denn auch die Baubranche, die Landwirtschaft und die Lebensmittelindustrie will weiter Zugang zu EU-Arbeitskräften. Im staatlichen Gesundheitswesen, wo ein Viertel aller Arbeitsplätze auf Ausländer entfällt, sollen dagegen künftig mehr britische Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern eingestellt werden. Ein Plan, der sich allenfalls mittelfristig verwirklichen lässt.

Unternehmen sollen Ausländeranteil der Belegschaft offenlegen

Äußerst unwillig reagierten Großbritanniens Wirtschaftsverbände auf die Ankündigung der neuen Innenministerin Amber Rudd, künftig müssten alle britischen Unternehmen offenlegen, wie hoch der Ausländeranteil in ihrer Belegschaft sei. Rudd erläuterte auf dem Parteitag, Ziel der Aktion sei nämlich, dass möglichst viele Jobs an britische Bewerber gingen. „Es wäre fatal, wenn die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer von jetzt an als eine Schande für das betroffene Unternehmen gelten würden“, wetterte Adam Marshall, der Chef der britischen Handelskammern.

Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Auch der einflussreiche Industrieverband CBI kritisierte, die Regierung habe noch sehr viele offene Fragen zu beantworten, die nun, nachdem der Zeitplan für den Beginn der Austrittsverhandlungen klar sei, noch dringlicher eine Antwort erforderten als bisher. CBI-Generaldirektorin Carolyn Fairbairn: „Nun da wir auf einen beschleunigten EU-Austritt im Frühjahr 2019 zusteuern müssen wir wissen, welche Vorstellungen die Regierung im Hinblick auf einen freien Zugang zum Binnenmarkt hat und wie sie das Problem des Facharbeitermangels angehen will“.

Autobranche ist nicht glücklich über den Brexit

Beim Pariser Autosalon hatte der Chef von Renault-Nissan, Carlos Ghosn, bereits gedroht, künftig werde sein Konzern nur noch dann neue Investitionen im nordenglischen Sunderland einplanen, wenn die britische Regierung ihm eine Entschädigung für künftige Zölle und andere Handelshemmnisse in Aussicht stelle. Nissan produziert in Sunderland rund 500.000 Fahrzeuge im Jahr, der größte Teil davon geht in den Export. Und auch die Kollegen des indischen Autobauers Jaguar Landrover sind nicht glücklich über den Brexit: sie beklagen, ausländische Käufer seien bereits jetzt zurückhaltender als bisher, was den Erwerb eines britischen Pkw angehe.

Und obwohl die britische Konjunktur die Folgen des EU-Referendums angesichts der exportfördernden Pfundabwertung und der lockeren Geldpolitik der Bank of England bisher viel besser überstanden hat als befürchtet, handelt es sich dabei wohl nur um eine Scheinblüte: „Ich war immer der Ansicht, dass der Brexit keinen kurzen scharfen Schock auslösen würde sondern eher langfristige Kosten verursachen dürfte, die sich über fünf bis zehn Jahre erstrecken könnten“, meint Stephanie Flanders. Denn es sei ein Fehlschluss anzunehmen, dass ein „harter“ Brexit, bei dem Großbritannien den Binnenmarkt verlasse, ohne wirtschaftliche Kosten möglich sei.

Das der konjunkturelle Einbruch bisher ausblieb, birgt allerdings Risiken, denn es könnte die britischen Unterhändler arrogant und realitätsfremd werden lassen, wenn es um das künftige Verhältnis zu Europa geht. Die Annahme, die EU-Staaten seien stärker vom Handel mit Großbritannien abhängig als umgekehrt, ist jedenfalls ein britischer Trugschluss. Und wenn May in einem Jahr auf dem nächsten Tory-Parteitag auftritt wird sie an den ersten Ergebnissen der Austrittsverhandlungen gemessen werden und nicht nur an ihren wohlklingenden Visionen für ein gerechteres und sozialeres Großbritannien.

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