„Ein Tsunami wäre im Vergleich zum Brexit eine Kleinigkeit“, warnt Ana Palacio, Spaniens frühere Außenministerin, düster. Gemeinsam mit hochrangigen Repräsentanten acht wichtiger EU-Länder – darunter zwei Ex-Regierungschefs sowie mehrere frühere Minister - sitzt die Spanierin in einer ehemaligen Brauerei im Londoner Finanzviertel im gleißenden Scheinwerferlicht an einem Verhandlungstisch, um die britischen Ausstiegsmodalitäten aus der Europäischen Union zu diskutieren.
Den Part des britischen Premierministers hat Lord Norman Lamont, ehemaliger Finanzminister und bekennender Euroskeptiker, übernommen. „Unser Nein bedeutet nicht, dass wir Europa ganz und gar den Rücken kehren wollen“ beschwört er seine Gesprächspartner und versucht bei ihnen um Konzessionen für den Handel und die Londoner City zu werben. Damit stößt er allerdings auf wenig Gegenliebe, und schnell kommt es zum Eklat.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Zum sogenannten „War Game“ (Kriegsspiel), bei dem die Verhandlungen über einen britischen EU-Ausstieg simuliert werden, hatte der einflussreiche Think Tank „Open Europe“ geladen. Dessen ehemaliger Chef Mats Persson sitzt heute als Europaberater von Premier David Cameron in der 10 Downing Street.
Cameron hofft, dass bereits beim nächsten EU-Gipfel am 18. und 19. Februar eine Einigung über seine Reform-Vorschläge erzielt werden kann, damit er in diesem Sommer das Referendum über Verbleib oder Austritt in der EU anberaumen kann. Bisher steht der genaue Termin für die Volksabstimmung über die Zukunft Großbritannien in Europa, die Cameron bis spätestens Ende 2017 versprochen hat, noch nicht fest. Eine Einigung beim EU-Gipfel im Februar würde es ihm aber ermöglichen, seine Landsleute noch im Juni abstimmen zu lassen. Der britische Premier drückt aufs Gas, weil 2017 in Frankreich und in Deutschland Wahlen stattfinden und Großbritannien im zweiten Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird.
Zweijährige Verhandlungen über das künftige Verhältnis
In den Umfragen liegen Gegner und Befürworter der EU-Mitgliedschaft etwa gleichauf, der Anteil der unentschlossenen Wähler ist allerdings immer noch groß. Sollte aber tatsächlich eine Mehrheit der Briten mit Nein stimmen, so träte Artikel 50 des Lissabon-Vertrages in Kraft, der zweijährige Verhandlungen über das künftige Verhältnis des Ausstiegskandidaten und der EU vorsieht. In dieser Zeit bliebe Großbritannien weiterhin EU-Mitglied und würde auch – das macht Lamont klar – seinen Beitrag zum EU-Haushalt zahlen. Doch wie bei einer Ehescheidung so zeigt sich im Verlauf des Tages auch bei den simulierten Ausstiegsverhandlungen, dass Vorwürfe, Rachegelüste und Verbitterung bei den „verlassenen“ Partnern vorherrschen. „Sich die Rosinen herauszupicken, nachdem man uns vorher monatelang gequält hat, ist nicht akzeptabel“, erklärt der frühere Finanzstaatssekretär Steffen Kampeter, der als Vertreter Deutschlands an der Debatte teilnimmt.
Großbritanniens wichtigste Importländer
Importe: 15,6 Milliarden Euro
Anteil an den Gesamtimporten: 2,9 Prozent
Importe: 17,3 Milliarden Euro
Anteil an den Gesamtimporten: 3,3 Prozent
Importe: 21,9 Milliarden Euro
Anteil an den Gesamtimporten: 4,1 Prozent
Importe: 22,2 Milliarden Euro
Anteil an den Gesamtimporten: 4,2 Prozent
Importe: 27,9 Milliarden Euro
Anteil an den Gesamtimporten: 5,2 Prozent
Importe: 32,2 Milliarden Euro
Anteil an den Gesamtimporten: 6,0 Prozent
Importe: 36,3 Milliarden Euro
Anteil an den Gesamtimporten: 6,8 Prozent
Importe: 41,5 Milliarden Euro
Anteil an den Gesamtimporten: 7,8 Prozent
Importe: 46,6 Milliarden Euro
Anteil an den Gesamtimporten: 8,8 Prozent
Importe: 79,3 Milliarden Euro
Anteil an den Gesamtimporten: 14,9 Prozent
Quellen: Office for National Statistics
Kampeter macht gemeinsam mit der ehemaligen französischen Europaministerin Noelle Lenoir deutlich, dass London im Anschluss an einen Brexit-Beschluss mit verstärkter Konkurrenz anderer europäischer Finanzplätze rechnen müsse. In diesem Sinne äußert sich auch Italiens früherer Ministerpräsident Enrico Letta. „Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass die EU nach einem britischen Austritt ein Finanzzentrum außerhalb ihrer Grenzen akzeptieren würde?“, schnauzt Karel de Gucht, der einstige EU-Handelskommissar, der in der Diskussion die EU und ihre Institutionen vertrat, den Briten Lamont an. Irlands ehemaliger Premierminister John Bruton kündigt an, Irland werde sich in diesem Fall verstärkt bemühen, Finanzgeschäfte von London nach Dublin zu holen.