Großbritannien vor der Wahl Was ein „Brexit“ für die EU bedeutet

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"Eine der wichtigsten Entscheidungen der nächsten Jahrzehnte"

Schon jetzt verunsichert die drohende Ungewissheit die Finanzmärkte: Zum Dollar ist das Pfund auf den tiefsten Stand seit fünf Jahren abgerutscht. „Ich bin zutiefst überzeugt, dass Europa zu verlassen den Einfluss Großbritanniens in der Welt verringern, unserer Wirtschaft bedeutenden Schaden zufügen und den Qualitäten und Ambitionen entgegenlaufen würde, die uns noch immer zu einer großen globalen Nation machen“, warnt der ehemalige Labour-Premier Tony Blair.

„Für Großbritannien wird dies die wichtigste Entscheidung der nächsten Jahrzehnte sein. Bleibt Cameron Regierungschef, dann wird sie seinen Platz in der britischen Geschichte bestimmen“, sagt Nick Robinson, der angesehene Politikchef der BBC.

Für ein Ja zur EU kämpfen vor allem die britischen Wirtschaftsverbände. „Für die meisten Unternehmen ist es klar, dass unsere ökonomische Zukunft am besten durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gesichert werden kann“, sagt Katja Hall, stellvertretende Vorsitzende des britischen Industrieverbandes CBI. Auch 92 Prozent der Mitglieder des Verbandes der Automobilhersteller und Händler halten die EU-Mitgliedschaft für wichtig. „Ein Brexit wäre schädlicher für die britische Wirtschaft als alles, was eine künftige Labour-Regierung tun könnte“, sagt Volkswirt Michael Saunders von der Citibank.

Großbritanniens wichtigste Importländer

Obwohl manche Briten bereits von den Freiheiten eines Offshore-Finanzzentrums träumen, ist auch die Geldindustrie zu großen Teilen skeptisch. Große US-Investmentbanken wie Goldman Sachs signalisierten bereits, nach einem Brexit würden sie einen Teil ihrer Belegschaft und ihres Geschäfts nach Frankfurt oder Paris verlagern. Der Fondsriese Blackrock warnt: „Eine Volksabstimmung über die künftige EU-Mitgliedschaft gehört zu den Schlüsselrisiken einer konservativen Mehrheitsregierung oder einer Koalitionsregierung unter Führung der Tories.“

Angst vor einer EU ohne Großbritannien

Auch in Brüssel dominiert die Sorge vor einem solchen Szenario. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist deswegen bemüht, Optimismus zu verbreiten: „Ich kann nicht glauben, dass es eine EU ohne Großbritannien geben wird.“

In einem sind sich die Beteiligten einig: Ohne Großbritannien würde die EU ihren Charakter grundsätzlich verändern – und zwar nicht zum Besseren. Die EU drohte zu einem nach innen gewandten, protektionistischen Club zu mutieren, wenn die Briten, traditionell Transatlantiker und Freihändler, wegfielen. „Jeder Brite hier bringt durch seine Verbindung zum Commonwealth unwillkürlich Weltläufigkeit mit“, sagt ein EU-Spitzenbeamter.

Großbritanniens wichtigste Exportländer

Nicht umsonst ist Großbritannien das Land mit den meisten ausländischen Direktinvestitionen in der EU, fungiert mit seinem Finanzplatz als eine Art Tor zur Welt. Trotz der diversen Rabatte ist London zudem ein wichtiger Nettozahler, allein 2013 überwies das Schatzamt 8,6 Milliarden Pfund nach Brüssel. Als ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat nimmt Großbritannien zudem für Europa Einfluss auf das Weltgeschehen.

Vor allem haben sich die Briten immer für den Binnenmarkt stark gemacht, von dem Unternehmen und Verbraucher in ganz Europa profitieren. „Die Briten sind dabei unsere besten Alliierten“, sagt ein EU-Kommissar. Die deutsche Bundesregierung lobe den freien Markt in seiner abstrakten Form zwar bei jeder Gelegenheit, doch im Konkreten sperre sich Berlin immer wieder gegen Regeln aus Brüssel, die die Wirtschaft liberalisieren.

Die EU-Kommission stellt fest, dass die Briten Binnenmarktrichtlinien im Schnitt innerhalb von 4,8 Monaten umsetzen, die Deutschen dagegen brauchen 15,5 Monate. Auch laufen gegen Deutschland aktuell 52 Vertragsverletzungsverfahren, weil Binnenmarktgesetzgebung nicht korrekt gehandhabt wird, gegen Großbritannien sind es 35.

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