Grundsatzrede im EU-Parlament Juncker ist nicht mehr der Richtige

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In der Politik gibt es kein unendliches Wachstum

Juncker erscheint bei solchen Reden immer mehr wie ein lebendes Fossil, ein Übriggebliebener aus einer Epoche des damals scheinbaren „Endes der Geschichte“ und des ewigen Wachstums und Fortschritts. Juncker ist die Personifizierung des unendlichen Ziels einer „ever closer union“, einer immer engeren Union, auf die der Maastricht-Vertrag die EU verpflichtet.

In der Politik gibt es im Gegensatz zur Theologie keine geschichtslosen Unendlichkeiten, keine Abstraktionen wie eine „ever closer union“. In der Politik kommt jeder Prozess früher oder später einmal an sein Ende. Dass eine politische Konstruktion, die den Prozess selbst zu ihrem Ziel erklärt, nicht dauerhaft stabil sein kann, weil sie damit unausweichlich immer stärkere Gegenkräfte hervorruft, hätten weise Staatsmänner voraussehen können. Europa-Politiker der Juncker-Generation haben das damals, als die Krisen unserer Gegenwart noch undenkbar oder zumindest unabsehbar waren, verdrängt.

Die Forderung nach mehr Europa wurde zur Religion

Statt bescheidener Realpolitik versuchten sie der EU eine säkulare Quasi-Religion zu verordnen, zu deren Glaubenssätzen es gehört, dass das Heil und die Erlösung von allen Schmerzen und Sorgen in „mehr Europa“ zu finden ist. Wobei man diese „europäischen Ideale“ in einem stetig wachsenden Regelwerk und Institutionenapparat realisieren zu können glaubte. Juncker gehört zu den Hohepriestern dieser europapolitischen Ersatzreligion, der angesichts ihrer allzu irdischen Fehlbarkeit die Gläubigen abhanden kommen.

Die Gegenkräfte sind mittlerweile unübersehbarer als je zuvor – in den europäischen Hauptstädten, vor allem in Warschau und Budapest, aber auch im Europäischen Parlament, wo erklärte EU-Feinde wie Nigel Farage und Marine Le Pen den Kommissionspräsidenten frontal und grundsätzlich attackierten. Dass ausgerechnet ein Mann wie Juncker, das Feindbild all jener, die vom Pfad zur immer engeren Union abweichen, der richtige Mann ist, um den von ihm selbst geforderten „Schulterschluss“ durchzusetzen, ist mehr als zweifelhaft. 

Juncker trägt nicht dazu bei, die nationalstaatlichen Gegenkräfte zu besänftigen. Sein „Mantra des Mehr“ macht sie, wie Kamall in der Debatte treffend feststellte, nur noch stärker. Eine Europäische Union der 28 braucht vor allem eins, wenn sie nicht völlig erodieren soll: Bereitschaft, Fehler der Vergangenheit als solche zu erkennen und zu korrigieren, Bereitschaft zum Kompromiss mit neuen politischen Kräften, die sich nicht länger stigmatisieren lassen, und Akzeptanz der grundsätzlichen Legitimität der sehr unterschiedlichen Interessen verschiedener Mitgliedsstaaten.

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