Grundsatzrede im EU-Parlament Juncker ist nicht mehr der Richtige

Der Präsident der EU-Kommission legt noch eine Schippe zu: Jean-Claude Juncker will mehr Europa, mehr Integration, mehr Geld. Der Mann wirkt zunehmend wie ein Fossil einer vergangenen Epoche.

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Der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker Quelle: REUTERS

Er will mehr. Jean-Claude Juncker, Kommissionspräsident und zuvor als luxemburgischer Ministerpräsident dienstältester Regierungschef des Kontinents, zeigte sich in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union mal wieder ganz als Europapolitiker der alten Schule. Als Exponent einer europäischen Politik, die das Heil der Europäer stets in einem gewaltigen „Mehr“ erblickt.

Die EU befinde sich in einer „existentiellen Krise“, stellt Juncker fest – niemand wird ihm da widersprechen. Ärzte und ihre Patienten stehen bei schwerwiegenden Erkrankungen meist vor einer grundlegenden Entscheidung: Ändert man die Behandlungsmethode (und gesteht damit ein, bislang auf dem Holzweg gewesen zu sein)? Setzt man bislang wirkungslos gebliebene Medikamente ab und versucht andere? Oder erhöht man die Dosis der bisherigen? Juncker ist der Mann des „More of the same“ – mehr von dem, was wir schon kennen. Das ist, wie der Fraktionsführer der britischen Konservativen im EU-Parlament, Syed Kamall, in der anschließenden Debatte treffend feststellte, Junckers „Mantra“.

Juncker will mehr Union

Wie sollte es auch anders sein. Ein Mann, der schon mit EU-Titanen wie Helmut Kohl den „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ von 1997 aushandelte und zuvor als Finanzminister den Maastricht-Vertrag mit prägte, kann keine andere Antwort geben, wenn er sich nicht selbst verraten will.  

Die fünf großen Baustellen der EU

Also mehr! Mehr europäische Investitionen für mehr Wachstum und weniger Arbeitslosigkeit zum Beispiel. Juncker will den im vergangenen Jahr gegründeten und oft schlicht „Juncker-Plan“ genannten „Europäischen Fonds für strategische Investitionen“ (EFSI), der den südeuropäischen Krisenländern zugutekommen soll, auf 630 Milliarden Euro verdoppeln und über 2018 hinaus seine Laufzeit um drei weitere Jahre verlängern.

Vor allem aber will Juncker mehr Union, mehr Integration, mehr gemeinsame Sozialgesetzgebung, mehr gemeinsame Verteidigung. "Wir brauchen viel mehr Solidarität“ appellierte Juncker mit Blick auf die nicht mal ansatzweise gelungene Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der Union, wobei er das Eingeständnis des Scheiterns gleich mitlieferte. Solidarität könne man nicht erzwingen, sie müsse von Herzen kommen.

Junge Menschen sollen sich in "Solidaritätskorps" engagieren

Es gehe den Mitgliedsstaaten zu häufig um nationale Interessen, klagte Juncker. Er dagegen wolle mit der Kommission eine „positive Agenda“ von Gemeinschaftsaktionen in den kommenden zwölf Monaten präsentieren. Zu dieser gehört auch: neue Institutionen schaffen. Zum Beispiel ein „Solidaritätskorps“, in dem sich junge Menschen freiwillig engagieren könnten, um in Krisenfällen europaweit zu helfen.

Wie Juncker der EU neuen Schwung geben will

Dass Juncker in seiner Rede auf keine der üblichen Zutaten europäischer Grundsatzreden verzichtete, ist wenig überraschend: Der Rekurs auf die Gründungsgeschichte als Friedensstiftung, die Erinnerung an die Aufnahme und ökonomische Stabilisierung vormals autoritär regierter Mittelmeerländer und ehemals kommunistisch beherrschter Länder fehlte ebenso wenig wie die Beschwörung von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

In der Politik gibt es kein unendliches Wachstum

Juncker erscheint bei solchen Reden immer mehr wie ein lebendes Fossil, ein Übriggebliebener aus einer Epoche des damals scheinbaren „Endes der Geschichte“ und des ewigen Wachstums und Fortschritts. Juncker ist die Personifizierung des unendlichen Ziels einer „ever closer union“, einer immer engeren Union, auf die der Maastricht-Vertrag die EU verpflichtet.

In der Politik gibt es im Gegensatz zur Theologie keine geschichtslosen Unendlichkeiten, keine Abstraktionen wie eine „ever closer union“. In der Politik kommt jeder Prozess früher oder später einmal an sein Ende. Dass eine politische Konstruktion, die den Prozess selbst zu ihrem Ziel erklärt, nicht dauerhaft stabil sein kann, weil sie damit unausweichlich immer stärkere Gegenkräfte hervorruft, hätten weise Staatsmänner voraussehen können. Europa-Politiker der Juncker-Generation haben das damals, als die Krisen unserer Gegenwart noch undenkbar oder zumindest unabsehbar waren, verdrängt.

Die Forderung nach mehr Europa wurde zur Religion

Statt bescheidener Realpolitik versuchten sie der EU eine säkulare Quasi-Religion zu verordnen, zu deren Glaubenssätzen es gehört, dass das Heil und die Erlösung von allen Schmerzen und Sorgen in „mehr Europa“ zu finden ist. Wobei man diese „europäischen Ideale“ in einem stetig wachsenden Regelwerk und Institutionenapparat realisieren zu können glaubte. Juncker gehört zu den Hohepriestern dieser europapolitischen Ersatzreligion, der angesichts ihrer allzu irdischen Fehlbarkeit die Gläubigen abhanden kommen.

Die Gegenkräfte sind mittlerweile unübersehbarer als je zuvor – in den europäischen Hauptstädten, vor allem in Warschau und Budapest, aber auch im Europäischen Parlament, wo erklärte EU-Feinde wie Nigel Farage und Marine Le Pen den Kommissionspräsidenten frontal und grundsätzlich attackierten. Dass ausgerechnet ein Mann wie Juncker, das Feindbild all jener, die vom Pfad zur immer engeren Union abweichen, der richtige Mann ist, um den von ihm selbst geforderten „Schulterschluss“ durchzusetzen, ist mehr als zweifelhaft. 

Juncker trägt nicht dazu bei, die nationalstaatlichen Gegenkräfte zu besänftigen. Sein „Mantra des Mehr“ macht sie, wie Kamall in der Debatte treffend feststellte, nur noch stärker. Eine Europäische Union der 28 braucht vor allem eins, wenn sie nicht völlig erodieren soll: Bereitschaft, Fehler der Vergangenheit als solche zu erkennen und zu korrigieren, Bereitschaft zum Kompromiss mit neuen politischen Kräften, die sich nicht länger stigmatisieren lassen, und Akzeptanz der grundsätzlichen Legitimität der sehr unterschiedlichen Interessen verschiedener Mitgliedsstaaten.

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