Historiker Jörn Leonhard "Geschichte wiederholt sich nicht"

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Beliebte Analogien

War mangelndes Verständnis für die Lage und die Sichtweisen anderer Nationen auch im Sommer 1914 ein Grund für die Zuspitzung der Krise?    

Ich verstehe, dass es eine enorme Nachfrage nach solchen direkten Analogien gibt. Die Gegenwart ist extrem unübersichtlich geworden - und das aktuelle Interesse an der Geschichte des Ersten Weltkriegs geht mit der Erwartung an die Historiker einher, sie mögen mit der Komplexität der Vergangenheit auch ein Stück weit die Komplexität der Gegenwart strukturieren. Aber man muss sehr vorsichtig sein. Geschichte wiederholt sich nicht. Die Konstellationen sind immer andere. Wir steigen nicht zweimal in denselben Fluss.

Wir können nicht aus der Geschichte lernen? 

Ich kann aus der Juli-Krise jedenfalls nicht lernen, wie wir heute die Krim-Krise lösen. Aber ich kann den Blick für Phänomene der Gegenwart schärfen - wenn ich sie mit der Vergangenheit vergleiche, um Gemeinsamkeiten, vor allem aber Unterschiede herauszuarbeiten. Ich glaube nicht an direkte Analogien, das mag suggestiv wirken und die Verkaufszahlen mancher Bücher stimulieren. Was es gibt, sind "Analogien mittlerer Reichweite": Wir sehen in der Gegenwart mehr, wenn wir in die Geschichte blicken und uns auf die Komplexität einer Krise wie der des Sommers 1914 einlassen.  

Von welchen Analogien mittlerer Reichweite sprechen Sie?  

Wir haben eben schon eine angesprochen. Die subjektive Wahrnehmung, eine Macht im Niedergang zu sein. Das Gefühl zu haben, man sei gedemütigt worden. Oder umgekehrt einen Platz zu beanspruchen, der einem nicht zugestanden wird. Das spielt in der Politik, damals wie heute, eine große Rolle - weil die Selbstwahrnehmung für die politischen Akteure zu einem handlungsleitenden Faktor wird und sich ihre eigene Wirklichkeit schafft. Heute gilt das für Russland, aber auch für China.

Vor 1914 galt das mehr oder weniger für alle Akteure.

Europa war ein Kontinent der Abstiegsangst? 

In vieler Hinsicht bestimmten solche subjektiven Ängste das Klima. Das Osmanische Reich nahm sich als "kranker Mann am Bosporus" wahr. Die Habsburger Monarchie hatte Angst davor, diesem Beispiel zu folgen. Russland, das 1904/05 in Asien den Krieg gegen Japan verloren hatte, war zutiefst verunsichert und konzentrierte sich auch zur Kompensation auf den Südosten Europas. Und das Deutsche Reich litt unter massiver Einkreisungsphobie. In Berlin ging die Angst um, nicht als das anerkannt zu werden, was man doch offenkundig war: eine extrem erfolgreiche Industriegesellschaft, ein aufsteigender Nationalstaat. Gerade das fortschrittsstolze Besitz- und Bildungsbürgertum prägte das Gefühl: Wenn uns die Anerkennung für unsere ökonomischen und kulturellen Leistungen, unseren eigenen Weg in die Moderne, versagt wird, müssen wir unsere gewachsenen Ansprüche eben im Konflikt in der Welt durchsetzen. Es ist kein Zufall, dass die Kriegsbegeisterung im deutschen Bürgertum im Sommer 1914 und zumal in den intellektuellen Eliten viel stärker ausgeprägt war als bei Bauern oder Arbeitern.

Hat das deutsche Wirtschaftsbürgertum damals nicht ganz im Gegenteil darauf spekuliert, dass ein Krieg viel zu kostspielig und deshalb unwahrscheinlich ist?   

Es gibt vor 1914 in der Tat sehr viele Wirtschaftsexperten, die nachzuweisen versuchen, dass der drohende Krieg gar nicht stattfinden kann. Ihr Argument: Die Gesellschaften im Westen Europas seien längst viel zu abhängig voneinander, durch globale Waren- und Wissensströme und Migration viel zu sehr miteinander verflochten. Speziell Deutschland, so wurde argumentiert, sei extrem importabhängig und ein Gewinner der Globalisierung des späten 19. Jahrhunderts. 

Und was lernen wir daraus? 

Handel und wirtschaftliche Verflechtung sind jedenfalls keine Immunisierung gegen den Krieg. Auch hochindustrialisierte Gesellschaften führen Krieg, nicht nur agrarische. Und die Vorstellung, die Globalisierung sei ein wirksamer Schutz gegen den Nationalismus hat schon 1914 nicht funktioniert. Im Gegenteil. Man kann dieses Argument spielend leicht umdeuten. Das lässt sich am Beispiel Walter Rathenaus sehr schön zeigen, der im Krieg die Rohstoffversorgung Deutschlands revolutionierte. Deutschland gelang es innerhalb weniger Wochen, seine globale Friedensproduktion auf eine sehr effiziente, nationale Kriegsproduktion umzustellen - obwohl es durch die britische Seeblockade vom Weltrohstoffmarkt weitgehend abgeschnitten war.

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