Historiker Jörn Leonhard "Geschichte wiederholt sich nicht"

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Musterbeispiel für gescheitertes Risikomanagement

Warum nicht? 

Weil man auf Risikostrategien umschaltet. Plötzlich geht es um Blankoschecks, die sich die fünf Großmächte wechselseitig ausstellen, und das Austesten der jeweiligen Angriffsbereitschaft. Und es gab nicht allein den deutschen Blankoscheck für Wien, sondern auch die russische Unterstützung für Serbien und die französische für Russland – diese internationale Sicht ist wichtig und ein Verdienst von Clarks Buch. Die Deutschen etwa wollen herausfinden, ob Russland wirklich bereit ist, wegen Serbien in einen Krieg zu ziehen, ob Großbritannien im Krisenfall wirklich fest zu seinen Bündnispartnern steht. Zur Eskalation trugen damals alle Parteien bei, aber der Schlüssel zur Deeskalation lag wesentlich in Berlin und London. Insofern ist der Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch ein Musterbeispiel für das Fiasko politischen Risiko-Managements. Man kalkuliert den Krieg ein und macht sich keine Vorstellung von den verheerenden Dimensionen eines einmal ausgebrochenen Krieges.

Weil es dafür kein Beispiel gab? 

Jedenfalls gab es keinen zurückliegenden Krieg als Warnung, keinen historischen Bezugspunkt, kein Vergleichsmodell. Nach der Mobilmachung wurden alle Pläne und Szenarien innerhalb von Tagen und Wochen Makulatur. In der Spandauer Zitadelle lagerten die Goldreserven der Reichsbank, die die Kriegsfinanzierung sicherstellen sollten. Nach wenigen Wochen waren alle Reserven aufgebraucht. Zur gleichen Zeit entwickelten sich die ersten Munitionskrisen . Das Ausmaß der Verluste zu Beginn des Krieges überstieg alle Erwartungen. Kurzum: Man kalkulierte den Gedanken an einen Krieg ein, ohne die konkreten Wirkungen eines Krieges abschätzen zu können.

Wird nicht Ähnliches Wladimir Putin und seiner Ukraine-Politik vorgeworfen? Innenminister  Wolfgang Schäuble hat dazu einen besonders scharfen historischen Vergleich gezogen: Solche Methoden wie auf der Krim und in der Ukraine habe Hitler schon im Sudetenland angewendet. 

Bei Schäuble muss man genau hinschauen: Er hat verglichen, nicht gleichgesetzt. Politisches Denken und Argumentieren hat naturgemäß viel mit Analogiebildung zu tun. Politiker greifen zur Legitimation ihres Handelns auf historische Beispiele zurück. Allerdings sind ihre Vergleiche in der Regel nicht auf ein besseres Verstehen, sondern auf politische Wirkung hin berechnet. Sie setzen nicht auf historische Komplexität, sondern auf den historischen Kurzschluss. Das dient der Aufmerksamkeit und nicht der Entwicklung eines abstrakten Arguments.

Und für das fühlen Sie sich zuständig? 

Das gehört meinem Verständnis als Historiker: Es kommt darauf an, mit dem Vergleich das Spezifische eines Phänomens zu verstehe und zu erklären, in dem man es von anderen Phänomenen unterscheidet. Eine besondere Entwicklung etwas Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert gibt es nur vor der indirekt mitgedachten Vergleichsfolie der Entwicklung in Frankreich oder England. Am Ende geht es darum, aus der Zwangsjacke des Schwarz-Weiß-Denkens herauszukommen, daher auch meine Warnung vor den einfachen „Lehren aus der Geschichte“. Die Farbe der Geschichte ist ein vielfältiges, spannendes Grau – darauf muss man sich einlassen.

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