Historiker Jörn Leonhard "Geschichte wiederholt sich nicht"

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Zeichen von Schwäche

Die Vorkriegszeit war nicht nur von großer ökonomischer, sondern auch von politischer Dynamik geprägt - auch das erleben wir heute.  

Wir sind lange von der Vorstellung geprägt gewesen, vor 1914 habe es feste Bündnissysteme gegeben, die wie zwei Züge aufeinander zurasten. Wir wissen heute, dass das so nicht stimmt. Die politische Situation war nicht festgefahren, sondern höchst instabil. Es gab Aufsteiger und Absteiger. Es gab die begründete Hoffnung, Bündnisse zu sprengen, ihre Stabilität auszutesten. Vor allem gab es eine große Verunsicherung, was die eigenen Machtperspektiven anging. Kurzum, die Welt war in Bewegung, ohne dass die Nationalstaaten eine Vorstellung davon hatten, wohin die Dynamik führen würde. Speziell die imperial agierenden Großmächte stellten sich damals die Frage nach der Überdehnung ihrer Ressourcen.

Ein Problem, vor dem heute vor allem die USA stehen? 

In den USA ist das jedenfalls das Dauerthema: Steigt Amerika ab? Steigt China auf? Haben wir noch genügend Ressourcen, um den Aufgaben einer mehr oder weniger unilateralen Weltmacht nachzukommen - und wenn nicht: Konzentrieren wir uns auf den Pazifik oder den Atlantik? 

Ehrlich gesagt, haben wir eher den Eindruck, dass die Politik es gegenwärtig gar nicht mehr schafft, uns Perspektiven aufzuzeigen und uns vor Alternativen zu stellen. Dass sie nur noch dem Geschehen hinterher amtiert. Dass sie nur noch auf Krisen reagiert, sie aber nicht mehr zu steuern versteht. 

Ein wichtiger Punkt. Von John F. Kennedy wissen wir, dass er während der Kuba-Krise Barbara Tuchmans „Guns of August“ gelesen hat. Es ist ein Buch über den Ersten Weltkrieg, das zeigt, dass es auch in weltpolitisch zugespitzten Situationen immer eine Vielzahl von Optionen und Wegrichtungen gibt. Für uns Historiker heißt das, dass wir auch rückblickend alle Handlungsalternativen darstellen müssen. Wir müssen dem Leser von heute gleichsam die vergangene Zukunft der Zeitgenossen von 1914 vergegenwärtigen. Nur weil wir wissen, welche der vielen Optionen schließlich zum Kriegsausbruch geführt haben, neigen wir viel zu oft dazu zu sagen: Es kam, wie es kommen musste. Gegen diesen Satz muss ich als Historiker ankämpfen. 

Die zehn größten politischen Risiken
Unruhen in der TürkeiDie Türkei ist verletzlich. Proteste, Korruption und der Bürgerkrieg im Nachbarstaat Syrien destabilisieren das Land unter Premierminister Recep Tayyip Erdogan. Der wehrt sich nach Kräften gegen die Opposition - sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei. Erdogan schreckt auch nicht davor zurück, die Bürgerrechte einzuschränken. Zuletzt sperrte er den Kurznachrichtendienst Twitter.Quelle: Der Politologe Ian Bremmer hat die zehn größten Gefahren für das aktuelle Jahr zusammengestellt. Quelle: REUTERS
Wladimir PutinRusslands Präsident Wladimir Putin ist der mächtigste Herrscher der Welt in einem der wichtigsten Länder der Welt. Doch die russische Wirtschaft stagniert. Das geht zulasten seiner Popularität - und macht Putin noch unberechenbarer. In der Ukraine-Krise lässt er seine Muskeln spiegeln. Erst annektierte er die Krim, nun greift er nach der Ostukraine. Putin droht einen Flächenbrand zu entfachen. Quelle: AP
Unruhen im Nahen OstenSeit dem arabischen Frühling haben sich die Unruhen im Nahen Osten ausgebreitet. Nach Ägypten und Syrien droht jetzt auch der Irak in blutige Auseinandersetzungen abzurutschen. Der Einfluss des Nachbars Iran wächst - sehr zum Ärger des regionalen Rivalen Saudi Arabien. Dazu kommen die Unsicherheit über die Rolle der USA in der Region, Irans Nuklearprogramm und die Situationen in Ägypten und Tunesien. Quelle: AP
Wiedersehen mit neuem FokusZuerst die gute Nachricht: Die USA sind sicherer vor Angriffen der Terror-Organisation Al Kaida geworden. das heißt jedoch nicht, dass die sunnitischen Extremisten von der Bildfläche verschwunden sind. Im Gegenteil. Die Organisation, zu der auch Osama bin Laden gehörte, profitiert von den Unruhen in der arabischen Welt. Die verhassten, westlichen Staaten haben großes Interesse an Stabilität in der Region. Genau an diesem Punkt sind sie verletzlich. Quelle: REUTERS
Kampf um die InternetvorherrschaftFrüher galt das Internet als weitgehend neutrale Zone, das von den Usern maßgeblich mitgestaltet wurde. Spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden ist klar, wie stark sich Staaten in die Internetfreiheit einmischen. Ein Ende des Trends ist nicht abzusehen. Für Unternehmer ist das eine schlechte Nachricht. Denn Cyber-Sicherheit wird immer teuerer. Quelle: AP
Ölstaaten unter DruckSteigende Förderkapazitäten, erhöhter Preisdruck und harter Wettbewerb: Für Ölproduzenten wie Russland, Nigeria, Venezuela und Saudi Arabien wird 2014 ein schwieriges Jahr. Deren Volkswirtschaften dürften das zu spüren bekommen - und wie im Falle Russlands auch politischen Druck ausüben. Quelle: dpa
Gratwanderung in Iran2013 hat sich die Situation zwischen Iran und den USA entspannt. Die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Iran greifen und der Erfolg bei der Präsidentenwahl des als moderat geltenden Hassan Rouhani wurde vom Westen als positives Signal gewertet. Doch die Annäherung findet auf schmalem Grat statt. Erst die diesjährigen Verhandlungen über das iranische Atomprogramm werden zeigen, ob Stabilität und nukleare Sicherheit in der Region möglich sind. Quelle: AP

Haben die Politiker damals die Fähigkeit verloren, in Alternativen zu denken? 

Das Problem war, dass man 1914 fast nur noch mit Unterstellungen operierte. Und das hieß: Man unterstellte dem Gegner genau das, was in das eigene Szenario passte. Und was alternative Möglichkeiten hätten sein können, blendete man im Gegenzug aus. So kam es zu einer Art self fulfilling prophecy: Aus den ganz widersprüchlichen Informationen wurden nur noch diejenigen ausgewählt, die den Eindruck der einen alternativlosen Entscheidung stützten. Dadurch entwickelte sich ein Sog, dadurch verselbständigte sich eine politische und militärische Eigenlogik, die sich gewissermaßen über die Akteure hinweg setzte. 

An welcher Stelle lässt sich das besonders deutlich erkennen? 

An der Beschleunigung der militärischen Systemlogik Ende Juli1914, als es immer mehr um die Mobilmachungen geht, um die Angst, durch eine falsche Entscheidung in eine schlechtere Ausgangsposition als der Gegner zu kommen. Am Ende führt das dazu, dass die Ressource Vertrauen immer mehr ausgeschaltet wird. Man hört nicht mehr aufeinander, bestätigt sich nur noch die Vorteile übereinander... 

... und versucht schließlich, dem Gegner zuvorzukommen.     

Richtig. Und in diesem Moment siegten die Militärs, die argumentierten: Wenn wir jetzt nicht losschlagen, geraten wir ins Hintertreffen. Das gilt für Deutschland mit seiner Zweifrontenproblematik im Westen und Osten Europas, aber auch für die übrigen Akteure. Indem man in immer engeren Zeitfenstern dachte, verengte sich der Horizont der Handlungsmöglichkeiten immer mehr. Die Fähigkeit, sich in die Lage anderer zu versetzen, trat in den Hintergrund, ja galt als Zeichen der Schwäche.

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