Historiker Ronald G. Asch über den Brexit "Die Briten beanspruchen eine Sonderrolle"

Die Distanz der Briten zur EU ist auch aus einem historischen Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Kontinent zu erklären. Die Brüsseler Bürokratie verträgt sich schlecht mit der britischen Vorstellung von Demokratie, sagt Ronald G. Asch.

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Bei der alljährlichen

WirtschaftsWoche: Wenn man einen Engländer des 17. Jahrhunderts fragte, ob er Europäer sei, was würde er sagen?

Asch: Es gibt schon im England des 17. Jahrhunderts ein Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Kontinent. Der Jurist Edward Coke sagte in einer Parlamentsdebatte in den 1620er Jahren: „No other state is like this: we are divisos ab orbe Britannos" – von der ganzen Welt getrennt sind die Briten. Ein Vergil-Zitat. Er meint damit: Wir haben eine eigene Rechtstradition, das common law; wir haben unsere Freiheitsrechte, die zurückgehen – angeblich jedenfalls – auf die vornormannische Zeit. Dieser Überlegenheitsanspruch taucht schon im späten 15. Jahrhundert auf, nach dem Ende des 100-jährigen Krieges, als man auf dem Kontinent nicht mehr politisch präsent ist.

Ronald G. Asch. Quelle: PR

Ausgerechnet nach einer militärischen Niederlage?

Die wird kompensiert, indem man sagt: Wir haben diese Freiheit, die die Franzosen nicht haben. In John Fortescues Buch De laudibus legum Angliæ finden sich schon Argumente, die später immer wiederkehren:  Wir sind eine Monarchie mit einer Mischverfassung, es gibt ein Parlament – in Frankreich nicht. Dieses Überlegenheitsnarrativ wird im Laufe des 17. Jahrhunderts intensiver, vor allem ab 1688.

Spielt die wachsende Seemacht Englands dabei eine Rolle?

Im 17. Jahrhundert ist es zunächst das staatsrechtliche Argument, zu dem der Protestantismus noch hinzu kommt. England war und ist – zumindest potentiell – das größte und mächtigste protestantische Land in Europa nach der Reformation. Schweden und Dänemark konnten da nicht mithalten. Im 18. Jahrhundert kommt dann die Stellung als führende Seemacht hinzu, das wachsende Kolonialreich, mit dem Spanien, die Niederlande und Frankreich am Ende nicht mehr konkurrieren können. Noch heute wird – nur halb ironisch – alljährlich bei den Proms die Hymne „Britannia, rule the waves. Britons never will be slaves gesungen. 

„Land of hope and glory“ heißt es in einer anderen inoffiziellen Hymne.

Die gehört ins 19. Jahrhundert, respektive sogar ins frühe 20. Jahrhundert - 1902. Daraus spricht der Nationalismus dieser Zeit. Großbritannien war als eines von wenigen Ländern nicht von der Französischen Revolution erfasst und nicht vom napoleonischen Frankreich unterworfen worden. Da findet man auch, zum Beispiel bei Edmund Burke um 1790, diesen Diskurs: Wir brauchen die Revolution nicht, wir haben ja unsere Freiheit auf andere Weise errungen. Wir brauchen keinen gewaltsamen Umsturz, keinen Bruch mit der Vergangenheit wie auf dem Kontinent. Da verfestigt sich also der Glaube an die eigene Überlegenheit. Das heißt nicht, dass man sich nicht zu Europa zugehörig fühlt. Aber man beansprucht eine Sonderrolle.

Londons Sonderwege in Europa
1960Als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird auf Initiative Londons die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, die keine politische Integration anstrebt. Im Bild: Der damalige EFTA-Generalsektretär Kjartan Joahnnsson (rechts) mit seinem Vorgänger Georg Reisch (links) zu den Feierlichkeiten zum 40-jährigen BEstehen der EFTA in Genf. Quelle: REUTERS
Charles de Gaulle Quelle: AP
Premier Harold Wilson Quelle: REUTERS
Margaret Thatcher Quelle: AP
1990Die EG-Länder beschließen im Schengener Abkommen die Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen. Großbritannien macht nicht mit. Quelle: AP
John Major, ehemaliger Premier Großbritanniens Quelle: REUTERS
Premier Tony Blair Quelle: AP

In der Kampagne der Brexit-Befürworter kommen immer wieder Vokabeln wie „Independance“ und „Freedom“ vor. Vor allem über das Fehlen einer Abwahlmöglichkeit der Brüsseler Kommission empört man sich.

Die lange Tradition der englischen Freiheitsrechte ist zum Teil ein Geschichtsmythos. Aber einer, der so oft erzählt wird, dass er eine gewisse Realität schafft. England ist das einzige Land mit einem kontinuierlichen Übergang von einer frühneuzeitlichen Ständeversammlung zu einem modernen Parlament. In allen anderen europäischen Ländern gibt es da historische Brüche. Natürlich ist das britische Parlament des 18. Jahrhunderts überhaupt nicht demokratisch. Das Wahlrecht wird erst ab den 1880er Jahren ansatzweise demokratisch. Aber es gab eben die Mitbestimmungsrechte des Parlaments schon ab dem 18. Jahrhundert. Und es gibt das Wechselspiel von Regierung und Opposition, das sich im 19. Jahrhundert in einem Zweiparteiensystem verfestigt.

Im heutigen europäischen Parlament dagegen gibt es eine Koalition fast aller großen Parteien, damit die Konflikte eingedämmt bleiben. Die Kommission nimmt zunehmend die Kompetenzen einer Regierung in Anspruch, ist aber nicht wirklich demokratisch gewählt und damit auch nicht abwählbar. Und im Rat der Regierungschefs beziehungsweise im Ministerrat ist die Verantwortung für die Entscheidungen im Kollektiv verborgen. Man kann da keinen zu fassen kriegen, der verantwortlich ist. Die englische Kritik am undemokratischen oder postdemokratischen Charakter der EU ist meines Erachtens weitgehend berechtigt.

Andererseits kann man natürlich Interessenkonflikte zwischen Nationen nicht durch Mehrheitsbeschluss entscheiden. Denn dann ziehen die kleinen Länder im Zweifel immer den Kürzeren. Das kann also nur durch Verhandlungen und Konsens gelöst werden. Die englische Demokratie ist sehr auf das Widerspiel von Regierung und Opposition abgestellt. Bei einer Wahl geht es sehr darum, eine Regierung zu bestätigen oder abzuwählen. Das funktioniert eben auf europäischer Ebene nicht.

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