Historiker über Jeremy Corbyn "Der radikalste Labour-Chef seit Menschengedenken"

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Corbyn will die Zeit zurückdrehen

In welcher wirtschaftspolitischen Tradition steht Corbyn?
Er will im Grunde hinter die vergangenen dreißig Jahre zurück. Er glaubt an eine Politik, die sich an den Siebzigerjahren orientiert. Also der Zeit der dogmatischen Labour-Partei vor Neil Kinnock und Tony Blair. Er hält das, was seit 1979 mit dem Regierungsantritt Margaret Thatchers passierte, für eine große Fehlentwicklung: Privatisierung, Deregulierung, Schwächung der Gewerkschaften. Das sind für Corbyn nicht ambivalente Fragen mit guten und schlechten Seiten, die man kalibrieren muss. Für ihn ist das eindeutig schlecht. Ich glaube, er ist der radikalste linke Labour-Parteichef seit Menschengedenken. Mindestens so radikal wie Michael Foot, der 1983 krachend die Unterhauswahlen gegen Thatcher verlor. Es ist wirklich bemerkenswert, wie so ein Mann mit einem Umfeld, das eher noch radikaler ist und durchaus auch mal positiv von Lenin und Trotzky spricht, die Labour-Partei kapern konnte.

Es scheint eine grundlegende politische Veränderung in Großbritannien passiert zu sein.
May ist es auch durch eigene Fehler nicht gelungen, die Wahrnehmung ihrer Person als starke Führerin für die Brexit-Verhandlungen im Zentrum des Wahlkampfes zu halten. Stattdessen haben soziale Gerechtigkeit, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, die negativen Auswirkungen der Sparpolitik auf den öffentlichen Dienst, also die Labour-Themen, Konjunktur. Aus historischer Perspektive ist es besonders erstaunlich, wie sehr beide Parteien den Thatcher-Blair-Konsens in wirtschaftspolitischen Fragen aufgegeben haben. Das bisher marktwirtschaftlich-neoliberale Grundverständnis der britischen Politik, das Thatcher ab 1979 eingeführt hatte, wurde von Blair und Cameron fortgeführt. Doch nun ist es aufgekündigt. Corbyn fordert unter anderem die erneute Verstaatlichung der Bahn und die Ausweitung der sozialen Ausgaben auch auf Kosten höherer Schulden. Die meisten Beobachter dachten bis vor Kurzem, dass das dreißig Jahre nach Thatcher nicht mehr möglich ist.

Bei May und den Tories scheint vom alten Thatcherismus aber auch nicht mehr viel übrig zu sein.
May versucht eine Umgruppierung der politischen Landschaft. Die britischen Tories sind die einzige etablierte Partei in Westeuropa, die den Populismus scheinbar erfolgreich für sich vereinnahmt hat. Sie haben sich die halbwegs akzeptablen Forderungen der UK Independence Party zu eigen gemacht – und UKIP damit so gut wie abgeschafft. Gemäßigte Konservative haben wegen der Schwäche der Liberaldemokraten und Labours Linksruck kaum eine Alternative. Aber ein großer Teil der alten Labour-Wählerschaft in Mittel- und Nordengland ist „up for grabs“, also offen für einen Parteiwechsel zu den Konservativen. Die haben Angst vor der Einwanderung und haben daher für den Brexit gestimmt. Nun sind manche von ihnen wohl erstmals in ihrem Leben bereit, die Konservativen in Erwägung zu ziehen. Sie nicht wieder abzustoßen, war das Kalkül von May hinter ihren staatsdirigistischen Sprüchen zu Anfang ihrer Regierung, und ihrer Kritik am marktliberalen Thatcherismus und dem ökonomischen Individualismus.

Wenn May, wie es scheint, nur knapp gewinnt, wird es dann eine innerparteiliche Rebellion gegen sie geben?
Bei einem knappen Sieg wird May jedenfalls geschwächt dastehen. Ihre Tory-Partei hat traditionell wenig Skrupel, sich erfolgloser oder allzu eigensinniger Führungsgestalten zu entledigen. Margaret Thatcher ist auf dem Höhepunkt des Sieges im Kalten Krieg von ihren eigenen Abgeordneten im Unterhaus abserviert worden. Andererseits liegt eine Alternative zu May nicht auf der Hand. Für eine Überraschungslösung wie 1990 John Major, ist das, was ansteht – nämlich die Brexit-Verhandlungen – dann doch zu riskant.

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