Historiker über Jeremy Corbyn "Der radikalste Labour-Chef seit Menschengedenken"

Jeremy Corbyn hat kräftig aufgeholt. Historiker Geppert erklärt, warum der Linke vor allem bei jungen Briten so beliebt ist und wieso eine Wende in der Wirtschaftspolitik bevorsteht.

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Der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn mit jungen Unterstützern in Kingston upon Hall. Quelle: Getty Images

WirtschaftsWoche Online: Die britischen Unterhauswahlen dürften den letzten Umfragen zufolge knapp ausgehen – nicht mit einer eindeutigen Niederlage der Labour-Partei, wie zunächst erwartet worden war. Ist das das Verdienst von Labour-Chef Jeremy Corbyn?
Dominik Geppert: Die Wahrscheinlichkeit, dass Corbyn Premierminister wird, ist weiterhin eher gering. Doch es ist nicht mehr so unmöglich, wie es noch vor einigen Wochen schien. Zunächst aber ist die Tatsache, dass Jeremy Corbyn Chef der Labour-Party ist, überhaupt der Grund dafür, dass diese Wahlen stattfinden. Premierministerin Theresa May hat die Neuwahlen angesetzt, weil sie glaubte, eine satte Mehrheit einfahren zu können. Dieses Kalkül war ruchlos und opportunistisch, aber rational. Das Kalkül der Konservativen war: Corbyn ist unwählbar und außerdem wird es um die Brexit-Verhandlungen gehen. Hierzu wollte sich May als starke Führerin bestätigen lassen. Nicht nur die regierenden Tories, auch ein großer Teil der eigenen Leute glauben, dass Corbyn die Labour-Partei unwählbar gemacht habe. Man darf nicht vergessen, dass Corbyn zwar von seiner Parteibasis zum Vorsitzenden gewählt wurde, aber die große Mehrheit seiner eigenen Fraktionskollegen im Unterhaus ihn für das Amt des Premierministers für ungeeignet halten.

Die fünf wichtigsten Köpfe im britischen Wahlkampf
Einmal Premierministerin sein - darauf hat Theresa May seit Jahren hingearbeitet. Quelle: REUTERS
Der 68-jährige Labour-Chef Jeremy Corbyn ist ein Meister der Polarisierung. Quelle: REUTERS
Tim Farron Quelle: REUTERS
Die kämpferische Chefin der Regionalregierung in Edinburgh, Nicola Sturgeon, wird augenzwinkernd als „Königin von Schottland“ bezeichnet. Quelle: REUTERS
Eigentlich sollte Paul Nuttall die zerstrittene, EU-feindliche UK Independence Party (Ukip) wieder auf Kurs bringen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Quelle: REUTERS

In einer Vertrauensabstimmung am 28. Juni vergangenen Jahres stimmten 172 der Labour-Unterhausabgeordneten gegen Corbyn und nur 40 für ihn. Was genau haben die Parteifreunde auszusetzen?
Seine Abgeordnetenkollegen werfen ihm vor, dass seine halbherzige Haltung vor dem Brexit-Referendum fatal war und er unprofessionell ist, weil er die gemäßigte Mitte, wo Wahlen gewonnen werden, zugunsten einer radikalen linken Politik verlassen hat. Getragen wird Corbyn von der Basis der in jüngster Zeit enorm gewachsenen Partei, von rebellischen jungen Leuten. Die sind per Mausklick mit geringstem finanziellem Aufwand der Partei beigetreten. Diese neue junge Basis hält ihn im Amt.

Was sind das für Leute?
Mit der Arbeiterjugend früherer Zeiten haben sie jedenfalls nicht viel zu tun.

Zur Person

Also eher eine akademische Linke?
Ja, das ist eine studentische Linke. Junge Leute, die man in Deutschland mancherorts aus dem AStA kennt. Die haben nun nach den wenig durchdachten Änderungen des innerparteilichen Wahlrechts das letzte Wort über den Parteichef. Wie wichtig die Arbeiterklasse noch ist und inwiefern man überhaupt noch für sie Politik machen kann und soll, ist umstritten. Die Arbeiter sind zum Teil zu UKIP abgewandert. Theresa May versucht nun, sie auch für die Konservativen zu gewinnen.

Warum ist Corbyn bei diesen jungen Menschen so beliebt? 
Er lebt als Politiker davon, dass er das sagt und tut, was er glaubt. Er hat einen Authentizitätsbonus. Wenn er an eine Sache nicht glaubt, dann hält er eben den Mund. Das war der Grund für seine Haltung vor dem Brexit-Referendum. Ich vermute, dass Corbyn im tiefsten Herzen die EU eigentlich ablehnt, weil er sie für einen kapitalistischen Plot hält.

Corbyn will die Zeit zurückdrehen

In welcher wirtschaftspolitischen Tradition steht Corbyn?
Er will im Grunde hinter die vergangenen dreißig Jahre zurück. Er glaubt an eine Politik, die sich an den Siebzigerjahren orientiert. Also der Zeit der dogmatischen Labour-Partei vor Neil Kinnock und Tony Blair. Er hält das, was seit 1979 mit dem Regierungsantritt Margaret Thatchers passierte, für eine große Fehlentwicklung: Privatisierung, Deregulierung, Schwächung der Gewerkschaften. Das sind für Corbyn nicht ambivalente Fragen mit guten und schlechten Seiten, die man kalibrieren muss. Für ihn ist das eindeutig schlecht. Ich glaube, er ist der radikalste linke Labour-Parteichef seit Menschengedenken. Mindestens so radikal wie Michael Foot, der 1983 krachend die Unterhauswahlen gegen Thatcher verlor. Es ist wirklich bemerkenswert, wie so ein Mann mit einem Umfeld, das eher noch radikaler ist und durchaus auch mal positiv von Lenin und Trotzky spricht, die Labour-Partei kapern konnte.

Es scheint eine grundlegende politische Veränderung in Großbritannien passiert zu sein.
May ist es auch durch eigene Fehler nicht gelungen, die Wahrnehmung ihrer Person als starke Führerin für die Brexit-Verhandlungen im Zentrum des Wahlkampfes zu halten. Stattdessen haben soziale Gerechtigkeit, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, die negativen Auswirkungen der Sparpolitik auf den öffentlichen Dienst, also die Labour-Themen, Konjunktur. Aus historischer Perspektive ist es besonders erstaunlich, wie sehr beide Parteien den Thatcher-Blair-Konsens in wirtschaftspolitischen Fragen aufgegeben haben. Das bisher marktwirtschaftlich-neoliberale Grundverständnis der britischen Politik, das Thatcher ab 1979 eingeführt hatte, wurde von Blair und Cameron fortgeführt. Doch nun ist es aufgekündigt. Corbyn fordert unter anderem die erneute Verstaatlichung der Bahn und die Ausweitung der sozialen Ausgaben auch auf Kosten höherer Schulden. Die meisten Beobachter dachten bis vor Kurzem, dass das dreißig Jahre nach Thatcher nicht mehr möglich ist.

Bei May und den Tories scheint vom alten Thatcherismus aber auch nicht mehr viel übrig zu sein.
May versucht eine Umgruppierung der politischen Landschaft. Die britischen Tories sind die einzige etablierte Partei in Westeuropa, die den Populismus scheinbar erfolgreich für sich vereinnahmt hat. Sie haben sich die halbwegs akzeptablen Forderungen der UK Independence Party zu eigen gemacht – und UKIP damit so gut wie abgeschafft. Gemäßigte Konservative haben wegen der Schwäche der Liberaldemokraten und Labours Linksruck kaum eine Alternative. Aber ein großer Teil der alten Labour-Wählerschaft in Mittel- und Nordengland ist „up for grabs“, also offen für einen Parteiwechsel zu den Konservativen. Die haben Angst vor der Einwanderung und haben daher für den Brexit gestimmt. Nun sind manche von ihnen wohl erstmals in ihrem Leben bereit, die Konservativen in Erwägung zu ziehen. Sie nicht wieder abzustoßen, war das Kalkül von May hinter ihren staatsdirigistischen Sprüchen zu Anfang ihrer Regierung, und ihrer Kritik am marktliberalen Thatcherismus und dem ökonomischen Individualismus.

Wenn May, wie es scheint, nur knapp gewinnt, wird es dann eine innerparteiliche Rebellion gegen sie geben?
Bei einem knappen Sieg wird May jedenfalls geschwächt dastehen. Ihre Tory-Partei hat traditionell wenig Skrupel, sich erfolgloser oder allzu eigensinniger Führungsgestalten zu entledigen. Margaret Thatcher ist auf dem Höhepunkt des Sieges im Kalten Krieg von ihren eigenen Abgeordneten im Unterhaus abserviert worden. Andererseits liegt eine Alternative zu May nicht auf der Hand. Für eine Überraschungslösung wie 1990 John Major, ist das, was ansteht – nämlich die Brexit-Verhandlungen – dann doch zu riskant.

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