Junckers letzter Traum EU soll Antworten auf Alltagssorgen liefern

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will die EU sozialer machen. Noch im April will er seinen Sozialvorstoß präsentieren und 20 Grundprinzipien auf EU-Ebene verankern lassen.

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Jean-Claude Juncker.

Unter Parteifreunden löst Jean-Claude Juncker mittlerweile die schlimmsten Gemütszustände aus, die ein Politiker überhaupt erzeugen kann: Mitleid und Langeweile. Auf dem Kongress der Europäischen Volkspartei Ende März etwa erhielt der EU-Kommissionschef nur sehr verhaltenen Applaus. Vor den in Malta versammelten konservativen Christdemokraten warb Juncker dafür, soziale Themen in Europa bloß nicht allein der Konkurrenz von den Sozialisten zu überlassen: „Das können wir besser.“ Die müde Reaktion der Kollegen aber sprach das genaue Gegenteil.

Der Auftritt auf der Insel war jedenfalls alles andere als eine gelungene Generalprobe für den geplanten großen Aufschlag. Ende April will Juncker seinen europäischen Sozialvorstoß unter der eigenwillig-holprigen Überschrift „soziale Säule“ präsentieren. 20 Grundprinzipien wie Chancengleichheit oder eine Mindestabsicherung sollen auf EU-Ebene verankert werden. Für den Punkt Vereinbarkeit von Familie und Beruf gibt es sogar gleich einen eigenen Richtlinienvorschlag.

Juncker, vom Brexit-Votum persönlich getroffen, will den europäischen Bürgern unbedingt signalisieren, dass die EU sich um sie kümmert. Brüssel, zu Junckers Leidwesen häufig entweder als allzu fernes Raumschiff oder Regulierungsmonster verschrien, soll dazu Antworten auf Alltagssorgen geben.

Doch Europa ist für Soziales gar nicht zuständig, nach den Verträgen fällt das in die Kompetenz der Mitgliedstaaten. Zudem hat Juncker erst im März seine Vision zur Zukunft Europas skizziert – und wollte bis zum Herbst über fünf mögliche Optionen der Zusammenarbeit breit diskutieren lassen. Nun prescht der Kommissionschef mit der sozialen Säule vor, einem eher zentralistischen Projekt. Die Integrationskritiker werden sich bestätigt sehen. Und ein offener Diskurs sieht anders aus.

Konkret will die EU-Kommission beispielsweise bei der Elternzeit vorschlagen, dass alle Mütter und Väter mindestens vier Monate Elternzeit bis zum zwölften Lebensjahr des Kindes nehmen können und dafür ein Entgelt auf dem Niveau von Krankengeld bekommen. Die deutsche Regelung ist bisher schon großzügiger, aber dennoch würden Veränderungen auf das deutsche System zukommen, denn die Elternzeit kann bisher nur bis zum achten Lebensjahr des Kindes genommen werden. Außerdem sollen nach dem Willen Brüssels Väter direkt nach der Geburt ihres Kindes zehn Tage Sonderurlaub bekommen.

Juncker will eine Sozialcharta

Die deutsche Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) hat grundsätzliches Einverständnis signalisiert, und im Arbeitsministerium fordert ihre Parteikollegin Andrea Nahles ohnehin schon seit Monaten eine Sozialagenda für Europa, „die den sozialen Zusammenhalt in den Mittelpunkt rückt“. Solange die EU keinen Druck ausübt, um die vergleichsweise hohen deutschen Standards drücken zu wollen, dürfte also wenigstens vom SPD-Teil der Bundesregierung kein Widerstand zu erwarten sein.

Auch bei anderen Sozialdemokraten in Europa kann Juncker auf Zustimmung hoffen. „Der Erfolg der EU hängt davon ab, ob wir die soziale Säule umsetzen wer-den“, sagt Joseph Muscat, als maltesischer Premier gerade EU-Ratsvorsitzender. Der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven lädt im November sogar eigens die europäischen Staats- und Regierungschefs zum Sondergipfel nach Stockholm ein, damit sie das Projekt auf oberster Ebene absegnen. Juncker will, dass aus der Säule eine ganze Sozialcharta erwächst, die bei der nächsten Vertragsänderung als Blaupause dienen kann.

Kritiker der Pläne sehen sich in die Ecke gedrängt. „Man muss sich dann fragen lassen, ob man für ein unsoziales Europa ist“, klagt der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. Die EU ist ohnehin schon sehr weit in die national dominierte Sozialpolitik vorgedrungen, sodass die Arbeitsaufteilung zwischen Mitgliedstaaten und Brüssel immer mehr verschwimmt. Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände zählt ganze 57 EU-Richtlinien, vier Verordnungen und zwei Vorschläge für neue Richtlinien im Bereich Soziales.

Überblick: Langzeitarbeitslose in der EU

Dabei war die EU bislang nie sonderlich erfolgreich, wenn sie sich an dem Thema versuchte. Egal, ob mit den Strukturfonds oder Ideen wie der Jugendgarantie für Ausbildungs- und Arbeitsplätze: Brüssel kündigte gerne Großes an und erreichte wenig. Gerade erst bemängelte der Europäische Rechnungshof die vor einigen Jahren noch hoch gehandelte Jugendgarantie.

„Sozial ist, was Jobs bringt“, sagt Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament. Und was diese Arbeitsplätze bringen würden, wüsste er auch: „Ich würde lieber einen Vorschlag der Kommission sehen, wie Vorschriften abgeschafft werden, die kleine und große Betriebe ausbremsen.“

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