Kaderschmiede ENA Wo Frankreichs Politik-Elite gemacht wird

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"Das mit der Macht ist falsch"

„Elite ist ja kein schlechtes Wort für uns“, sagt Schulleiterin Loiseau. Das Wort entstamme ja dem französischen „électorale“, also der Wahl. Und eine Auswahl träfen sie hier allemal, nämlich die der besten und klügsten Köpfe eines Jahrgangs. „Aber das mit der Macht ist falsch. Nur drei Prozent unserer Absolventen gehen am Ende in die nationale Politik.“

Was sie unterschlägt: Diese Zahl bezieht sich nur auf Mandatsträger. Dennoch, meint Loiseau: Kaum einer sehe, dass die ENA jedes Jahr über 100 Absolventen hervorbringe, die überall in den Verwaltungen des Landes ihren Dienst täten. Sie hatte schon General Charles de Gaulle im Sinn, als er die ENA 1945 gründete. Nach dem Krieg suchte er einen Weg, den öffentlichen Dienst schnell und effektiv wiederherzustellen. Er erdachte eine Eliteschule, an die es tatsächlich jeder schaffen können sollte. Noch immer kostet die ENA kein Geld, sondern zahlt ihren Schülern bis zu 2100 Euro Lohn im Monat – schließlich sind sie Staatsdiener und leisten die Hälfte ihrer 24 Monate Schulzeit als Praktikum ab. Allein der Aufnahmetest entscheidet über die Zulassung.

Und doch ebbt die Kritik nicht ab. Denn: Ohne richtiges Elternhaus und das passende Gymnasium schafft kaum jemand die auf öffentliches Recht und politische Ökonomie konzentrierten Prüfungen. Dass die Dozenten keine festen Professoren sind, sondern Gastredner aus den französischen Spitzenbehörden, tut das Übrige – das System reproduziert sich weiter selbst.

Wohin das führt, hat Arte vor ein paar Jahren verfilmt. „Lehrjahre der Macht“ spielt an der ENA der ausgehenden Siebzigerjahre. Ganz am Anfang sitzt eine junge Frau vor dem Aufnahmekomitee. „Sind Sie gegen die Todesstrafe“, will der Juror wissen. „Klären Sie mich auf, gibt es die denn noch?“, antwortet das Mädchen. „Streben Sie danach, berühmt zu werden“, fragt der Aufnahmeleiter weiter. „Ich will nur dienen“, antwortet sie. Am Ende wird sie genommen – und erfolgreich, dank des Machtnetzwerks. Ein wunderbares Werk.

Madame Loiseau findet, es sei der schlechteste Film, den sie je gesehen habe. „Nichts davon ist wahr“, sagt die ENA-Direktorin. Schon heute lehre die Schule modernes Verwaltungsmanagement. Interne Evaluationen zeigten außerdem, dass 86 Prozent der Schüler und Vorgesetzten zufrieden seien mit der Lehre. Dennoch hält sie ein paar Reformen für nötig, will etwa die EU stärker in den Fokus rücken und eine Stiftung gründen, die zur Verwaltung der Zukunft forscht und sich fragt, wie man die Bürger übers Internet an Entscheidungen beteiligen kann.

„Es reicht nicht, sich als modern, offen, wagemutig und erfinderisch zu präsentieren, um es auch zu sein“, urteilt Adeline Baldacchino über diese Reformbestrebungen. Die 35-Jährige hat keinen persönlichen Grund zum Groll gegen die Schule. Als Zehntbeste ihres Jahrgangs gehörte sie 2009 zur sogenannten „botte“ der ENA. So wird die kleine Gruppe der 15 Bestplatzierten genannt, der im Anschluss Karrieren in den prestigeträchtigsten Beamtenstuben offenstehen. Baldacchino entschied sich für den Rechnungshof, der Unabhängigkeit wegen. Und veröffentlichte ein Buch: „Die Farm der Enarchen“, in Anlehnung an Orwell. Die ENA, so ihr Fazit, sei eine Blase, mit deren Hilfe einige wenige in luftige Höhe entschwebten, während die Sorgen der Bürger ausgeblendet würden. Dass einzelne ENA-Schüler nun Praktika beim Roten Kreuz oder der Hilfsorganisation Secours Populaire machten, schaffe keine Abhilfe. Vielmehr sei das die wahre Kunst der ENA: die Probleme unter den Teppich zu kehren und zu warten, das der Sturm vorüberzieht. „Nur, dass er dieses Mal nicht vorüberziehen wird.“

Wenn sie da mal nicht die französische Elite unterschätzt. Die aktuelle Abschlussklasse jedenfalls findet, ihre ENA sei doch moderner denn je – ihrer Zeit quasi voraus.

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