Die Macht von morgen trägt Kapuzenpulli. Mit leiser, fast flüsternder Stimme, aber in geschliffenem Oxford-Englisch spricht Pierre über seine Zukunft. Die Haare glatt gekämmt, die Worte gewählt, sitzt der 24-Jährige am Ende eines U-förmigen Tischgebildes im trist möblierten zweiten Stock eines mittelalterlichen Baus in der Straßburger Altstadt. Englischkurs bei Mademoiselle. Pierre soll erklären, warum er hier ist, auf der École nationale d’administration, kurz ENA. Hier würden Präsidenten gemacht, sagen die einen. Hier kapsele sich die Elite ab, sagen andere. Pierre sagt fast schüchtern: „Ich wollte schon immer in den öffentlichen Dienst. Meine Ausbildung hier gibt mir eine Menge Möglichkeiten. Nichts ist sicher. Nur, dass ich die nächsten 40 Jahre in der Verwaltung bin.“
Wirtschaftspolitische Pläne von Emmanuel Macron
Die Unternehmenssteuer soll von derzeit 33 auf 25 Prozent gesenkt werden. Die Steuergutschrift für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (CICE) soll umgewandelt werden in eine dauerhafte Entlastung für Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen.
An der 35-Stunden-Woche soll festgehalten werden. Allerdings könnte sie flexibler geregelt werden, indem Betriebe über die tatsächliche Arbeitszeit mit ihren Beschäftigten verhandeln.
Sie sollen von bestimmten Sozialabgaben befreit werden. Dadurch könnten Niedriglohnempfänger einen zusätzlichen Monatslohn pro Jahr in ihren Taschen haben.
Binnen fünf Jahren sollen 50 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern investiert werden. 15 Milliarden Euro davon sollen in bessere Aus- und Weiterbildung gesteckt werden, um die Einstellungschancen von Jobsuchenden zu verbessern. Ebenfalls 15 Milliarden Euro sind geplant, um erneuerbare Energien zu fördern. Weitere Milliarden sind für die Landwirtschaft, die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, für Infrastruktur und Gesundheitswesen geplant.
60 Milliarden Euro an Einsparungen sind bei den Staatsausgaben vorgesehen, die in Frankreich traditionell hoch sind. Zehn Milliarden Euro soll der erwartete Rückgang der Arbeitslosenquote von derzeit etwa zehn auf sieben Prozent bringen, indem die Ausgaben für Arbeitslosengeld sinken. Durch eine verbesserte Effizienz soll das Gesundheitswesen zehn Milliarden einsparen, weitere 25 Milliarden Euro die Modernisierung des Staatsapparates.
In Gegenden mit niedrigem Einkommen soll die Schülerzahl auf zwölf pro Klasse begrenzt werden. Lehrer sollen als Anreiz für eine Arbeit in solchen Regionen einen Bonus von 3000 Euro pro Jahr bekommen. Mobiltelefone in Schulen sollen für Kinder bis 15 Jahren verboten werden. Alle 18-Jährigen sollen einen Kulturpass im Wert von 500 Euro erhalten, den sie beispielsweise für Kino-, Theater- und Konzertbesuche ausgeben können.
Ein halbes Dutzend von Pierres Kommilitonen hört zu, nickt. Da ist Thomas, 24, Karriereziel: Diplomat. Helene, 29, will ins Finanzministerium. Oder auch Theo, 40, ein Quereinsteiger, der schon bei den Vereinten Nationen war und sich nun mit der ENA in den öffentlichen Sektor Frankreichs „re-integrieren“ will, wie er das nennt. Es ist die Promotion „Louise Weiss“. So heißt der Jahrgang, der hier gerade auf seinen Abschluss hinarbeitet, benannt nach der Frauenrechtlerin und Schriftstellerin. Für den nächsten Tag steht schon das Klassenfoto auf dem Stundenplan. Dann wird ihr Bild hängen neben Expremier Dominique de Villepin, der früheren Umweltministerin Ségolène Royal, Expräsident François Hollande und seinem Nachfolger im Amt, Staatsoberhaupt Emmanuel Macron.
Sie alle stehen für den Ruf der ENA, die Kaderschmiede für Frankreichs Elite zu sein. Weil hier Macht scheinbar vererbt, Direktoren geboren und Präsidenten geformt werden. „Enarchen“ nennt man die Eleven in Frankreich. Das Wort drückt wie kein anderes das zwiespältige Gefühl aus, mit dem die französische Gesellschaft ihnen begegnet: Man verehrt sie als intellektuelle Elite und verwünscht sie gleichzeitig als Angehörige eines gleichgeschalteten höfischen Zirkels, unfähig, den Alltag der gemeinen Franzosen zu begreifen. Als die Franzosen kürzlich gefragt wurden, was sie von der ENA hielten, befanden fast 80 Prozent, sie sei abgehoben. Gleichzeitig wünschten sich ebenso viele Eltern für ihre Kinder, dass diese den Aufnahmetest auf eben dieser Schule schafften.
Was Macrons Sieg für Europa bedeuten könnte
Wichtig ist der Erfolg Macrons vor allem deswegen, weil sonst Marine Le Pen Staatschefin geworden wäre. Die Rechtspopulistin hatte im Wahlkampf für eine Abkehr Frankreichs von der Europäischen Union und vom Euro geworben. Ein EU-Austritt Frankreichs würde das komplette europäische Einigungsprojekt infrage stellen - vor allem vor dem Hintergrund des bevorstehenden Brexits.
Frankreich ist nach Deutschland das bevölkerungsreichste EU-Land. Zudem wird es nach dem Brexit das einzige EU-Land mit Atomwaffen und ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat sein. Auch die Wirtschaftleistung ist enorm.
Macron will sich für tiefgreifende Reformen der Union einsetzen. Die Eurozone mit 19 Ländern soll einen eigenen Haushalt, ein Parlament und einen Finanzminister bekommen. Zudem spricht er sich für europäische Mindeststandards in Bereichen wie Gesundheitsvorsorge und Arbeitslosenversicherung aus.
Macron sagt: „Ich bin ein Pro-Europäer.“ Er verteidige die europäische Idee und die europäische Politik, weil er glaube, „dass sie sehr wichtig für die französische Bevölkerung und für unser Land in Zeiten der Globalisierung sind.“
Auf absehbare Zeit gering. Vieles, was Macron fordert, wird in der EU schon seit langem diskutiert. Mangels Einigkeit gab es allerdings kaum Fortschritte. In Brüssel wird darauf gehofft, dass sich das nach dem für 2019 vorgesehenen EU-Austritt Großbritanniens ändern könnte. Macron warnt davor, sich zuviel Zeit zu lassen. Wenn in der EU alles beim Alten bleibe, drohe der „Frexit“ (Austritt Frankreichs) oder ein weiteres Erstarken der Front National.
„Ich bin überzeugt, das Emmanuel Macron ein guter Partner für Deutschland sein wird.“ Mit diesen Worten hatte Frankreichs scheidender Präsident François Hollande in der vergangenen Woche auf den möglichen Wahlsieg seines früheren Wirtschaftsministers geblickt. Das dürfte jedoch nicht heißen, dass Macron immer ein leichter Partner sein wird.
Das ist schwer zu sagen. Macron selbst sagt, er sei „weder rechts noch links.“ Im Wahlkampf bekam der frühere Sozialist deswegen sowohl von Unionspolitikern als auch von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen Unterstützung. Kanzlerin Merkel sagte jüngst mit Blick auf einen möglichen Wahlsieg Macrons: „Sein Erfolg wäre ein positives Signal für die politische Mitte, die wir ja auch hier in Deutschland stark halten wollen.“ Nachdem Merkel ihn im März im Kanzleramt empfangen hatte, sprach Macron von „großer Übereinstimmung“.
Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz stellte schon einmal selbstbewusst fest: Macron als Präsident in Frankreich und „ich als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland“ würden die Reform der EU in Angriff nehmen. Für Schulz etwas misslich ist nur, dass er sich in der ersten Wahlrunde für Benoît Hamon von den französischen Sozialisten stark gemacht hatte. Der Kandidat der SPD-Schwesterpartei PS war dort mit einem deutlich linkeren Programm angetreten als Macron und klar gescheitert.
Abgesehen von der Reform der Euro-Zone vor allem in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Macron ist - wie US-Präsident Donald Trump - ein scharfer Kritiker des deutschen Exportüberschusses. Neulich sagte er: Deutschland müsse zu der Einsicht kommen, „dass seine wirtschaftliche Stärke in der jetzigen Ausprägung nicht tragbar ist“. Deutschland profitiere vom Ungleichgewicht in der Eurozone und erziele sehr hohe Handelsüberschüsse. „Hier muss ein Ausgleich geschaffen werden.“
Der deutsche Exportüberschuss könnte zum Beispiel abgebaut werden, indem die Bundesregierung die Überschüsse im Bundeshaushalt nutzt, um mehr zu investieren, etwa in den Straßenbau. Zudem fordern manche Ökonomen, dass die Löhne in Deutschland stärker steigen müssten, um die Binnennachfrage zu stärken. Die Kaufkraft ließe sich auch über Steuersenkungen erhöhen.
Die französische Gesellschaft bewegt sich zwischen diesen Extremen, die Präsidentschaftswahl zeigte das überdeutlich. Die ENA ist vielen Beleg für das verkrustete System des Landes, die wirtschaftliche Misere, ausgelöst durch Vetternwirtschaft und Pariser Klüngelkreise. Und so muss sich ENA-Leiterin Nathalie Loiseau Fragen gefallen lassen wie diese: Kann es wirklich richtig sein, 120 eines Jahrgangs nach einem altmodischen Verfahren herauszupicken und ihnen nach etwas Studium generale Arbeitsverträge in den höchsten Verfassungsorganen des Landes zu garantieren? Braucht es das heute? Braucht es die ENA überhaupt?
Was haben sie nicht alles versucht in den vergangenen Jahren: haben den Schulort aus Paris nach Straßburg verlegt. Haben, um das Geheimbund-Image loszuwerden, mit Loiseau eine ENA-Direktorin berufen, die selbst nicht auf der Schule studierte. Haben das Curriculum entstaubt und die Praktika auf untere Verwaltungsebenen erweitert, damit die Schüler „das harte Leben der weniger privilegierten Franzosen kennenlernen“. Und selbst der Englischkurs ist eine Revolution.
Das Kernproblem haben all diese Maßnahmen aber nie gelöst: die Nähe zur Macht. Mit Emmanuel Macron ist nun ein weiterer Enarch in den Élysée eingezogen und berief gleich mehrere Schulkameraden in hohe Ämter: seinen Premierminister Edouard Philippe, die Minister Bruno le Maire und Sylvie Goulard, seine Berater Alexis Kohler, Philippe Etienne, Patrice Strzoda und Claudia Ferrazzi. Dabei hatte er doch den Bruch mit den Eliten angekündigt. Ist Frankreich, ist die ENA, womöglich lernresistent?
"Das mit der Macht ist falsch"
„Elite ist ja kein schlechtes Wort für uns“, sagt Schulleiterin Loiseau. Das Wort entstamme ja dem französischen „électorale“, also der Wahl. Und eine Auswahl träfen sie hier allemal, nämlich die der besten und klügsten Köpfe eines Jahrgangs. „Aber das mit der Macht ist falsch. Nur drei Prozent unserer Absolventen gehen am Ende in die nationale Politik.“
Was sie unterschlägt: Diese Zahl bezieht sich nur auf Mandatsträger. Dennoch, meint Loiseau: Kaum einer sehe, dass die ENA jedes Jahr über 100 Absolventen hervorbringe, die überall in den Verwaltungen des Landes ihren Dienst täten. Sie hatte schon General Charles de Gaulle im Sinn, als er die ENA 1945 gründete. Nach dem Krieg suchte er einen Weg, den öffentlichen Dienst schnell und effektiv wiederherzustellen. Er erdachte eine Eliteschule, an die es tatsächlich jeder schaffen können sollte. Noch immer kostet die ENA kein Geld, sondern zahlt ihren Schülern bis zu 2100 Euro Lohn im Monat – schließlich sind sie Staatsdiener und leisten die Hälfte ihrer 24 Monate Schulzeit als Praktikum ab. Allein der Aufnahmetest entscheidet über die Zulassung.
Und doch ebbt die Kritik nicht ab. Denn: Ohne richtiges Elternhaus und das passende Gymnasium schafft kaum jemand die auf öffentliches Recht und politische Ökonomie konzentrierten Prüfungen. Dass die Dozenten keine festen Professoren sind, sondern Gastredner aus den französischen Spitzenbehörden, tut das Übrige – das System reproduziert sich weiter selbst.
Wohin das führt, hat Arte vor ein paar Jahren verfilmt. „Lehrjahre der Macht“ spielt an der ENA der ausgehenden Siebzigerjahre. Ganz am Anfang sitzt eine junge Frau vor dem Aufnahmekomitee. „Sind Sie gegen die Todesstrafe“, will der Juror wissen. „Klären Sie mich auf, gibt es die denn noch?“, antwortet das Mädchen. „Streben Sie danach, berühmt zu werden“, fragt der Aufnahmeleiter weiter. „Ich will nur dienen“, antwortet sie. Am Ende wird sie genommen – und erfolgreich, dank des Machtnetzwerks. Ein wunderbares Werk.
Madame Loiseau findet, es sei der schlechteste Film, den sie je gesehen habe. „Nichts davon ist wahr“, sagt die ENA-Direktorin. Schon heute lehre die Schule modernes Verwaltungsmanagement. Interne Evaluationen zeigten außerdem, dass 86 Prozent der Schüler und Vorgesetzten zufrieden seien mit der Lehre. Dennoch hält sie ein paar Reformen für nötig, will etwa die EU stärker in den Fokus rücken und eine Stiftung gründen, die zur Verwaltung der Zukunft forscht und sich fragt, wie man die Bürger übers Internet an Entscheidungen beteiligen kann.
„Es reicht nicht, sich als modern, offen, wagemutig und erfinderisch zu präsentieren, um es auch zu sein“, urteilt Adeline Baldacchino über diese Reformbestrebungen. Die 35-Jährige hat keinen persönlichen Grund zum Groll gegen die Schule. Als Zehntbeste ihres Jahrgangs gehörte sie 2009 zur sogenannten „botte“ der ENA. So wird die kleine Gruppe der 15 Bestplatzierten genannt, der im Anschluss Karrieren in den prestigeträchtigsten Beamtenstuben offenstehen. Baldacchino entschied sich für den Rechnungshof, der Unabhängigkeit wegen. Und veröffentlichte ein Buch: „Die Farm der Enarchen“, in Anlehnung an Orwell. Die ENA, so ihr Fazit, sei eine Blase, mit deren Hilfe einige wenige in luftige Höhe entschwebten, während die Sorgen der Bürger ausgeblendet würden. Dass einzelne ENA-Schüler nun Praktika beim Roten Kreuz oder der Hilfsorganisation Secours Populaire machten, schaffe keine Abhilfe. Vielmehr sei das die wahre Kunst der ENA: die Probleme unter den Teppich zu kehren und zu warten, das der Sturm vorüberzieht. „Nur, dass er dieses Mal nicht vorüberziehen wird.“
Wenn sie da mal nicht die französische Elite unterschätzt. Die aktuelle Abschlussklasse jedenfalls findet, ihre ENA sei doch moderner denn je – ihrer Zeit quasi voraus.