Kleinstaaterei in der Schweiz Die Schattenseiten des Separatismus

Für Anhänger der Kleinstaaterei sind die Eidgenossen ein Vorbild. Dabei ist die größte Sorge der Schweizer Wirtschaft dieser Tage der boomende Nationalismus im Land.

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Tobias Erb Quelle: Tanja Demarmels für WirtschaftsWoche

Tobias Erbs Tage im Paradies sind gezählt. Zum 1. November tritt er eine Stelle an der Universität Marburg an, ein paar Wochen wird er noch hin- und herpendeln, bevor er sein Büro endgültig räumt. Schon jetzt ist Erb voller Wehmut, wenn er über den Campus der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich schlendert. „Hier herrscht ein einzigartiger Geist, es gibt Weltklasse-Forscher und tolle Studenten“, schwärmt Erb. Hoch auf dem Hönggerberg thront die Universität über der Stadt. Erb hatte sich perfekt akklimatisiert hier oben, wissenschaftlich und privat. Er, der Leiter einer Forschungsgruppe im Fachbereich Biochemie, schon mit Mitte 30 eine Instanz auf seinem Feld. Seinen Espresso im Campus-Café bestellt er in einwandfreiem Schwyzerdütsch.

Warum nun also Marburg? „Ich wäre gern in Zürich geblieben“, sagt Erb. Doch im Februar stimmten die Schweizer in einer Volksabstimmung völlig überraschend für die „Masseneinwanderungsinitiative“, die eine strikte Zuwanderungsbegrenzung fordert. Für Erb, den Biologen aus dem Schwarzwald, hat das Konsequenzen: Die Beteiligung aller Schweizer Universitäten an wissenschaftlichen EU-Projekten war auf Eis gelegt worden. Genau so ein Projekt wollte Erb aber einreichen, Umfang zwei Millionen Euro; es sollte sein endgültiger Durchbruch werden. „Von einem auf den anderen Tag ist alles unsicher geworden“, sagt Erb.

Bei Schottlands „No“ zur Unabhängigkeit – so geht es weiter

Unsicherheit – es ist ein Wort, das in Wirtschaft und Wissenschaft immer häufiger die Runde macht, wenn es um Schweizer Politik geht. Bisher machte das Gegenteil, die Sicherheit, die Verlässlichkeit, den Kern des nationalen Geschäftsmodells und patriotischen Stolzes aus. Weil die Schweizer sich von keinem etwas vorschreiben lassen, können sie so bleiben, wie sie wollen. Damit ist das Land zum beneideten Sonderfall geworden. Die Schweizer sind mittendrin in Europa und machen doch ihr eigenes Ding. Viele wünschen sich genau so einen Status. Die Katalanen, viele Schotten, manchmal sogar die Bayern. Umso erstaunlicher, dass gerade das vermeintliche Musterland dieser Tage zeigt, welche Schattenseiten zu viel Separatismus mit sich bringen kann.

Heinz Brand hat ein ambivalentes Verhältnis zu Übertreibungen. Er benutzt sie gern und prangert sie ebenso gern an. „Die Freunde der unbegrenzten Zuwanderung erzählen uns, dass wir sie brauchen, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein“, sagt Brand, Nationalrat der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP). „Mit Verlaub gesagt, das ist absoluter Quatsch!“ Brand verantwortet die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, die seine Partei erfunden hat. Bis 2017 hat das Parlament dafür formal Zeit, doch schon jetzt ist klar, dass sich die Schweizer in eine aussichtslose Situation manövriert haben. Die Bürger haben entschieden, dass die Schweiz ihre Zuwanderung über Kontingente regeln soll, so wie es früher schon mal war. Früher, das ist zwar noch nicht lange her, aber es war eine ganz andere Zeit. Seit 2002 gelten zwischen der Schweiz und der EU bilaterale Verträge, mit denen die Schweiz an den vier Freiheiten im europäischen Wirtschaftsraum teilnimmt. Das heißt: Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital dürfen sich frei bewegen. Kontingente passen da schlecht hinein.

SVP-Mann Brand sieht das anders. Schließlich erlaube die EU in Ausnahmesituationen eine Kontrolle der Zuwanderung. Diese Ausnahme sei gegeben, solange so viele Menschen in die Schweiz einwanderten, wie es aktuell der Fall ist. „Die Zuwanderung hat jedes erträgliche Maß überschritten, das hält unser Land nicht mehr aus“, ereifert sich Brand. 80.000 Menschen sind zuletzt pro Jahr in die Schweiz gezogen; wenn es nach Brand geht, sollen es höchstens noch 50.000 oder 60.000 sein.

Erste negative Folgen für die Wirtschaft

Die „Masseneinwanderungsinitiative“ ist ein Musterbeispiel für die wachsende Einigelung der Schweiz. In den vergangenen Jahren hatte eine ganze Reihe von Initiativen Erfolg, die auf mehr Abschottung setzte. 2013 gaben die Stimmbürger der „Swissness“-Initiative ihren Segen. Seitdem gelten deutlich strengere Regeln für Unternehmen, die ihren Produkten das Siegel made in Switzerland verleihen wollen. Es folgte die Zweitwohnungsinitiative. Die macht es Ausländern deutlich schwerer, Wohnraum in der Schweiz zu erwerben, ohne dort dauerhaft zu leben. Ende November kommt nun der radikalste Abschottungsvorschlag auf den Tisch: Sollte die „Ecopop“-Initiative Erfolg haben, würde die jährliche Zuwanderung in die Schweiz auf 0,2 Prozent der aktuellen Bevölkerungszahl beschränkt. Momentan hieße das: auf 16.000 Menschen im Jahr.

Die beliebtesten Länder bei Einwanderern
Platz 10: Spanien6,5 Millionen Einwanderer leben im Jahr 2013 in Spanien. Im Jahr 2000 waren es erst zwei Millionen. Quelle: AP
Platz 9: AustralienNach Down Under verschlug es genauso viele Menschen. Auch hier leben aktuell 6,5 Millionen Einwanderer. Aufgrund der geringeren Einwohnerzahl ist ihr Anteil an der Bevölkerung mit 27,7 Prozent aber wesentlich höher als in Spanien (13,8 Prozent). 30.000 sind Flüchtlinge. Quelle: dpa
Platz 8: KanadaIn Kanada leben 7,3 Millionen Migranten, dazu zählen rund 163.700 Flüchtlinge. Insgesamt machen Einwanderer 20,7 Prozent der Bevölkerung aus. Quelle: AP
Platz 7: Frankreich7,4 Millionen Menschen aus dem Ausland leben 2013 in Frankreich, davon rund 218.000 Flüchtlinge. Einwanderer machen 11,6 Prozent der Bevölkerung aus. Innerhalb der Top Ten sind sie am ältesten, das Durchschnittsalter beträgt rund 48 Jahre. Quelle: REUTERS
Platz 6: GroßbritannienIn Großbritannien machen Migranten 12,4 Prozent der Bevölkerung aus. Insgesamt kommen sie auf 7,8 Millionen Menschen, davon rund 150.000 Flüchtlinge. Quelle: dpa/dpaweb
Platz 5: Vereinigte Arabische EmirateEbenfalls 7,8 Millionen Einwanderer leben in den Vereinigten Arabischen Emiraten - doch hier machen sie sage und schreibe 83,7 Prozent der Bevölkerung aus. Flüchtlinge sind mit rund 600 Personen hier jedoch genauso selten anzutreffen... Quelle: REUTERS
Platz 4: Saudi Arabien...wie in Saudi Arabien. Hier leben 9 Millionen Migranten, die 31 Prozent an der Bevölkerung ausmachen. Mit durchschnittlich 31 Jahren in Saudi Arabien und 30 Jahren in den Emiraten leben in der Region auch die jüngsten Einwanderer innerhalb der Top Ten. Quelle: AP

Peter Eichenberger verzweifelt, wenn er solche Vorschläge hört. „30 Prozent unserer Mitarbeiter kommen aus dem Ausland“, sagt Eichenberger. „Wenn diese Initiative Erfolg hat, bekommen wir ernste Probleme.“ Eichenberger leitet das Claraspital in Basel, 20 Prozent seiner Ärzte und Pfleger pendelt täglich aus Deutschland über die Grenze, weitere zehn Prozent kommen aus Frankreich. „Unsere Wirtschaft ist so verflochten mit dem Ausland, da ist es doch eine Illusion, zu glauben, dass man diese Verzahnung einfach schadlos wieder zurückdrehen könnte“, sagt Eichenberger. Wie zur persönlichen Ehrenrettung verweist er darauf, dass der Kanton Basel gegen die „Masseneinwanderungsinitiative“ votiert habe.

Eichenberger benennt damit einen der vielen Widersprüche im schweizerischen Selbstverständnis der Gegenwart. Nicht nur in Basel fanden die Ausländerkontingente keine Zustimmung, sondern auch überall sonst, wo der Austausch mit den deutschen und französischen Nachbarn intensiv ist. Mehrheiten sammeln solche Initiativen dagegen in der Zentralschweiz, wo die Zuwanderung am geringsten ist. Dahinter steckt ein Muster, wie man es auch bei Separatismus-Bewegungen anderswo findet: Der Wunsch nach Abschottung spiegelt den Traum, die Errungenschaften der Gegenwart mit den verklärten Vorzügen der Vergangenheit zu verbinden. Dass der Verlust des einen der Preis des anderen ist, wird dabei ignoriert.

In der Schweiz ist das besonders augenfällig. Die Wirtschaft hat von der Integration in Europa stärker profitiert als die meisten Mitgliedstaaten. Seit der Einbindung in den Wirtschaftsraum ist das Pro-Kopf-Wachstum dreimal so hoch wie in der vorherigen Dekade. Zugleich hat sich in der Schweiz die Illusion gehalten, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun.

Dabei hat der neue Nationalismus erste negative Folgen in der Wirtschaft. Gerade schließt der schwedische Konzern Electrolux seinen Standort im Kanton Glarus, einer der Gründe sind die Auflagen der Swissness-Initiative. Der Chef des Industriekonzerns ABB gab jüngst zu Protokoll, dass der Schweizer Hauptsitz zur Disposition stehe, wenn die Zuwanderungsregeln zu restriktiv würden.

Tobias Erb will mit seinem Abgang kein politisches Statement verbinden. Er kann sich vorstellen, eines Tages zurückzukommen. „Ich hoffe, dass sich hier die Erkenntnis durchsetzt, dass das Land von seiner Internationalität profitiert“, sagt Erb. Eigentlich sei eine Stadt wie Zürich „doch der beste Beleg, wie gut Weltoffenheit und Heimatverbundenheit zusammenpassen“.

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