Deutschland scheint von dieser neuen Parteienkonstellation noch weit entfernt. Doch das könnte sich ändern. Eine entscheidende Voraussetzung besteht auch hierzulande: Der programmatische Schulterschluss von Christ- und Sozialdemokraten plus Grünen ist längst Realität. Seit den 90er Jahren gehen alle miteinander Pizza essen, man duzt sich überparteilich und jeder kann mit jedem koalieren.
Welcher deutsche Wähler könnte schon die programmatischen Unterschiede zwischen Schulz‘ SPD und Merkels CDU benennen? Sie finden sich allenfalls in technokratischen Details und ideologischen Nuancen, die in wenigen Schlagworten wie „soziale Gerechtigkeit“ zu Mobilisierungszwecken fast grotesk überbetont werden. Verglichen mit den Zeiten Adenauers und Schumachers oder Barzels und Brandts sind heutige Wahlkämpfe zwischen CDU und SPD längst zu Karikaturen früherer Richtungsentscheidungen geworden. Merkel und Schulz unterscheidet, wie ein Kollege der „Welt“ treffend schrieb, tatsächlich „nur der Bart“.
Dass die AfD so viel schwächer als der Front National ist, dürfte einerseits an der unverhältnismäßig guten Lage des deutschen Arbeitsmarktes liegen und andererseits an der hierzulande aus historischen Gründen besonders ausgeprägten Sensibilität gegen nationalistische, in irgendeiner Weise als „rechts“ empfundene Positionen. Dazu kommt der Mangel an demagogischem Talent bei der AfD. Dennoch: Harter politischer Streit, ja Feindschaft, wie man sie aus Bundestagsdebatten der 19070er Jahre kennt und jetzt in Frankreich zwischen Macron und Le Pen erlebt, kommt in der Bundesrepublik von 2017 nur auf, wenn die AfD im Spiel ist.
Dieses Entstehen einer neuen parteipolitischen Konfliktkonstellation ist nicht inhaltlich aber strukturell mit dem parlamentarischen Aufstieg der Sozialdemokraten am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu vergleichen. Die von den damals etablierten konservativen und liberalen Parteien unbefriedigten Interessen der neuen Arbeiterklasse führten in allen europäischen Ländern zum Aufschwung von mehr oder weniger marxistischen Arbeiter-Parteien.
In Bismarcks Deutschland galten sie zunächst als „Reichsfeinde“, eine Stigmatisierung, die jeden anständigen Bürger davon abhalten sollte, sie zu wählen. Aber selbst härtere Repressalien – die von 1878 bis 1890 gültigen „Sozialistengesetze“ – konnten deren zunehmende Stimmengewinne nicht verhindern. Bei den Reichstagswahlen 1912 wurden sie die größte Partei, ohne die kaum noch zu regieren war. In Großbritannien kippte das alte Zweiparteiensystem von Konservativen und Liberalen, das die britische Geschichte des 19. Jahrhunderts geprägt hatte, ab 1906 in nur wenigen Legislaturperioden zum neuen Zweiparteiensystem von Konservativen und Arbeiterpartei, dass dann bis heute die britische Politik prägte.
Vier Gründe für das starke Abschneiden der Extremen
Für die EU-Feindin Le Pen ist die Sache klar. Neben der „massiven Einwanderung“ sind auch die „Technokraten“ aus Brüssel schuld an Frankreichs Problemen. Nur ein wenig freundlicher schaut Mélenchon auf Brüssel. Er stört sich an den Sparvorgaben und wollte deshalb die europäischen Verträge neu verhandeln. Und wie anderswo in Europa widerstehen auch Politiker etablierter Parteien nicht immer der Versuchung, unangenehme Entwicklungen der Einfachheit halber der EU anzulasten.
Die hohe Arbeitslosenquote von 10 Prozent ist eines der größten Probleme Frankreichs. Bei jungen Leuten liegt die Quote sogar bei 23,6 Prozent. Die Konjunktur schwächelt. Soziale Ungleichheit treibt vor allem Mélenchons Anhänger und die Unterstützer des abgeschlagenen Sozialisten Benoît Hamon um.
Sozialisten und Konservative, die sich bislang im Élyséepalast die Klinke in die Hand gaben, haben die Wähler abgestraft wie nie zuvor. Beide sind in der Stichwahl nicht dabei. Das dürfte auch als Rechnung für den als schwach geltenden, scheidenden Präsidenten François Hollande zu verstehen sein. Verachtung für den selbsterklärten konservativen Saubermann François Fillon, der dann aber teure Anzüge annahm und seine Frau scheinbeschäftigt haben soll, dürfte auch eine Rolle gespielt haben.
Le Pens scharfe Attacken auf „die Kaste“ fallen in Frankreich vielleicht auch deshalb auf fruchtbaren Boden, weil das System der Elitehochschulen lebenslange Seilschaften fördert. Zahlreiche Politik- und Wirtschaftsführer kommen etwa von der Verwaltungshochschule ENA - bis hin zu Staatschef Hollande.
Gesellschaftliche Interessenkonflikte, wie der zwischen den Profiteuren der migrationsoffenen, europäisch integrierten oder gar globalisierten Markt-Gesellschaft und den weiterhin national denkenden Gegnern und Verlierern dieser Entwicklung, lassen sich auf Dauer nicht mit moralisierenden Argumenten übertünchen. Wenn etablierte Parteien das ganze Spektrum der politischen Interessen nicht mehr selbst repräsentieren können oder wollen, werden sie sich letztlich damit abfinden müssen, dass ihnen eine neue politische Konkurrenz entsteht, die den Job übernimmt.