Das Leben ist höchst ungerecht. Und die demokratische Politik erst recht. In Großbritannien wählten 43 Prozent (bei einer Beteiligung von 68 Prozent) die Konservativen von Premierministerin Theresa May, was für diese ein „Wahldesaster“ (Handelsblatt) und den Verlust der Parlamentsmehrheit bedeutete.
In Frankreich dagegen wählten nur 32 Prozent der Wähler (bei nur 49 Prozent Beteiligung) die Kandidaten der neuen Präsidentenpartei „La République en Marche“ (LREM) – und alle Welt feiert Emmanuel Macron als großen Sieger und künftigen Retter Europas.
Besonders euphorisch sind deutsche Alpha-Ökonomen. Thomas Straubhaar jubiliert in der „Welt“: „Das neue Frankreich macht den Ausfall der Briten locker wett“. Holger Schmieding, Chefvolkswirt von Berenberg, findet, dass Macron durch seinen „Erdrutschsieg“ bewiesen habe, dass er „ein fähiger Politiker ist“, Frankreich werde „in wenigen Monaten die Arbeitsmarktreformen haben, die es braucht“. Er könne sich vorstellen, „dass in einigen Jahren ein reformiertes Frankreich sogar Deutschland wirtschaftlich überholt.“
Ökonomen, die in der Finanzwirtschaft oder im staatsnahen Bereich Karriere machen wollen, müssen bekanntlich Optimisten sein. Reines Erkenntnisinteresse und Skepsis gegenüber politischen Opportunitäten ist da eher hinderlich. Was aber zeigen die französischen Wahlen wirklich?
Das französische Mehrheitswahlrecht bei gleichzeitiger Zersplitterung der Parteienlandschaft führt zu einem absurd unrepräsentativen Parlament: LREM wird in der heutigen zweiten Runde der Wahlen nach letzten Umfragen wohl zwischen 440 und 470 der 577 Sitze in der Nationalversammlung gewinnen. Denn in fast all den betreffenden Wahlkreisen treten die Kandidaten des neuen Präsidenten gegen Konkurrenten an, die kaum Aussicht haben, eine Mehrheit der Nicht-LREM-Anhänger auf sich zu vereinen.
Man muss sich jenseits der Jubelarien auf Macron klar vor Augen halten: Nicht einmal 13 Prozent der wahlberechtigten Franzosen haben in der ersten Runde die Kandidaten der Präsidentenpartei gewählt. 51,2 Prozent der Franzosen haben gar nicht gewählt.
Es waren – glaubt man einer Umfrage der Zeitung „Le Figaro“ - vor allem Anhänger der radikalen Opposition, also von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon, die den Wahlen fernblieben, da sie ohnehin keine Chance für deren Parteikandidaten in ihren Wahlkreisen sahen. Außerdem die große Gruppe jener, „die von der französischen Politik angewidert sind“. Macron triumphiert also nur deswegen, weil seine Gegner zersplittert sind und radikale Linke und Rechte sich nicht auf gegenseitige Unterstützung einigen können.
Wirtschaftspolitische Pläne von Emmanuel Macron
Die Unternehmenssteuer soll von derzeit 33 auf 25 Prozent gesenkt werden. Die Steuergutschrift für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (CICE) soll umgewandelt werden in eine dauerhafte Entlastung für Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen.
An der 35-Stunden-Woche soll festgehalten werden. Allerdings könnte sie flexibler geregelt werden, indem Betriebe über die tatsächliche Arbeitszeit mit ihren Beschäftigten verhandeln.
Sie sollen von bestimmten Sozialabgaben befreit werden. Dadurch könnten Niedriglohnempfänger einen zusätzlichen Monatslohn pro Jahr in ihren Taschen haben.
Binnen fünf Jahren sollen 50 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern investiert werden. 15 Milliarden Euro davon sollen in bessere Aus- und Weiterbildung gesteckt werden, um die Einstellungschancen von Jobsuchenden zu verbessern. Ebenfalls 15 Milliarden Euro sind geplant, um erneuerbare Energien zu fördern. Weitere Milliarden sind für die Landwirtschaft, die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, für Infrastruktur und Gesundheitswesen geplant.
60 Milliarden Euro an Einsparungen sind bei den Staatsausgaben vorgesehen, die in Frankreich traditionell hoch sind. Zehn Milliarden Euro soll der erwartete Rückgang der Arbeitslosenquote von derzeit etwa zehn auf sieben Prozent bringen, indem die Ausgaben für Arbeitslosengeld sinken. Durch eine verbesserte Effizienz soll das Gesundheitswesen zehn Milliarden einsparen, weitere 25 Milliarden Euro die Modernisierung des Staatsapparates.
In Gegenden mit niedrigem Einkommen soll die Schülerzahl auf zwölf pro Klasse begrenzt werden. Lehrer sollen als Anreiz für eine Arbeit in solchen Regionen einen Bonus von 3000 Euro pro Jahr bekommen. Mobiltelefone in Schulen sollen für Kinder bis 15 Jahren verboten werden. Alle 18-Jährigen sollen einen Kulturpass im Wert von 500 Euro erhalten, den sie beispielsweise für Kino-, Theater- und Konzertbesuche ausgeben können.
Das französische Mehrheitswahlrecht war stets umstritten, weil es neue Parteien jenseits der großen Lager extrem benachteiligt. Aber es war akzeptabel und sinnvoll zu Zeiten, als zwei halbwegs gleich starke politische Lager – Sozialisten und gemäßigt Rechte, die sich auf de Gaulle zurückführen lassen - mit eindeutig unterscheidbaren Positionen sich gegenüberstanden. Diese waren im Gegensatz zum britischen und amerikanischen System zwar jeweils in kleinere Parteien aufgespalten, die aber auf Wahlkreisebene fast nie konkurrierten, sondern sich auf gemeinsame Kandidaten einigten.
Macrons Sieg bringt keine wirkliche Stabilität
Die Blitzkarriere von Emmanuel Macron hat mit dem Zwei-Lager-System der V. Republik nun Schluss gemacht. Seine LREM entwickelt sich zu einer großen Macht-Partei des Establishments, die beide alten Lager zum großen Teil aufgesogen hat. Das betrifft vor allem den Großteil der Wählerschaft aber auch einige prominente Politiker der einst großen Parteien.
Die neue Präsidentenpartei hat daher nicht mehr einen großen Gegenspieler, sondern viele kleine, im wesentlichen vier: die ausgelutschten Reste der Altparteien und die Anti-Establishment-Parteien von links (Jean-Luc Mélenchon mit „Unbeugsames Frankreich“) und rechts (Marine Le Pen mit dem Front National). Nur dieser fatalen Kombination eines Mehrheitswahlrechts in einer zersplitterten Vielparteienlandschaft verdankt Macrons Partei ihre riesige Mehrheit im Parlament.
Diese Wahlen sind also keineswegs der große Sieg für politische Stabilität und ökonomische Reformen, den man in den Regierungsvierteln und Wirtschaftsinstituten feiert. Sie sind vielmehr ein unübersehbares Indiz dafür, dass Frankreich nicht nur in einer ökonomischen und gesellschaftlichen Krise steckt. Die französische Demokratie selbst ist in einer fundamentalen Krise, weil Wahlen die oppositionellen Interessen in der Gesellschaft nicht mehr in parlamentarische Repräsentation übersetzen können. Dieses Wahlergebnis schafft daher beste Voraussetzungen dafür, dass die ohnehin schon gewaltige Frustration großer Teile der französischen Gesellschaft noch weiter ansteigt.
Außerdem: Die absurd große Mehrheit für Macrons Partei heißt keineswegs, dass er die Wunschträume der Ökonomen und Finanzakteure mit seinem Reformprogramm schnell und schmerzlos wahrmachen kann. Wenn Macron das sozial- und arbeitsmarktpolitische Skalpell ansetzt, wird das vielen Franzosen wehtun und zuwider sein. Dann dürfte die Diskrepanz zwischen der riesigen Parlamentsmehrheit und der allenfalls relativen Mehrheit seiner Wähler aufbrechen. Das unrepräsentative Parlament und die extrem geringe Wahlbeteiligung verheißen eine außerparlamentarische Grundsatzopposition. Die Franzosen lieben es, Revolution zu spielen. Seit 1789 ist ihnen die Straße mindestens so wichtig als politisches Medium wie die Wahlkabine.
Es wird wohl schon bald Streiks und Massendemonstrationen geben. Ob dann die völlig uneingespielte, zum Teil aus erfahrungslosen Laienpolitikern bestehende LREM-Fraktion treu zu ihrem Präsidenten steht, ist längst nicht sicher. Aber sogar wenn alles so läuft, wie Macron und seine Anhänger sich das erträumen, und Frankreichs Wirtschaft demnächst wieder boomt, wird es viele Verlierer geben. Die inneren Konflikte – gescheiterte Integration der meisten Einwanderer, No-Go-Areas in den Vorstädten, islamistischer Terror – werden durch wirtschaftliche Reformen nicht verschwinden. Vielleicht können sie überhaupt nicht gelöst werden.
Zusammengehalten wird die neue Partei nur durch die Teilhabe an der Macht und Macrons Talent: Die Erneuerung der verbrauchten Elite zu demonstrieren – ohne sie wirklich auszutauschen. Ideologischen Kitt, also die Treue zu einer politischen Idee jenseits der Macht, hat Macron nicht zu bieten. Darin ist er übrigens seiner Verbündeten in Berlin durchaus ähnlich. Aber im Gegensatz zu den Deutschen neigen Franzosen nicht zur Treue und zur Anbetung der Mächtigen. Während Merkels Lehensfürsten in den Unionsparteien ihr jeden Fehler verzeihen, dürften dem Emporkömmling Macron bei Niederlagen schnell die Vasallen von der Fahne gehen – inklusive der Geldgeber, die den Blitzaufstieg seiner Bewegung ermöglichten.
Vier Gründe für das starke Abschneiden der Extremen
Für die EU-Feindin Le Pen ist die Sache klar. Neben der „massiven Einwanderung“ sind auch die „Technokraten“ aus Brüssel schuld an Frankreichs Problemen. Nur ein wenig freundlicher schaut Mélenchon auf Brüssel. Er stört sich an den Sparvorgaben und wollte deshalb die europäischen Verträge neu verhandeln. Und wie anderswo in Europa widerstehen auch Politiker etablierter Parteien nicht immer der Versuchung, unangenehme Entwicklungen der Einfachheit halber der EU anzulasten.
Die hohe Arbeitslosenquote von 10 Prozent ist eines der größten Probleme Frankreichs. Bei jungen Leuten liegt die Quote sogar bei 23,6 Prozent. Die Konjunktur schwächelt. Soziale Ungleichheit treibt vor allem Mélenchons Anhänger und die Unterstützer des abgeschlagenen Sozialisten Benoît Hamon um.
Sozialisten und Konservative, die sich bislang im Élyséepalast die Klinke in die Hand gaben, haben die Wähler abgestraft wie nie zuvor. Beide sind in der Stichwahl nicht dabei. Das dürfte auch als Rechnung für den als schwach geltenden, scheidenden Präsidenten François Hollande zu verstehen sein. Verachtung für den selbsterklärten konservativen Saubermann François Fillon, der dann aber teure Anzüge annahm und seine Frau scheinbeschäftigt haben soll, dürfte auch eine Rolle gespielt haben.
Le Pens scharfe Attacken auf „die Kaste“ fallen in Frankreich vielleicht auch deshalb auf fruchtbaren Boden, weil das System der Elitehochschulen lebenslange Seilschaften fördert. Zahlreiche Politik- und Wirtschaftsführer kommen etwa von der Verwaltungshochschule ENA - bis hin zu Staatschef Hollande.
Zwar hat Le Pens Front National, also die Fundamentalopposition gegen das politische Establishment, bei den Wahlen eine Schlappe erlitten. Aber die anti-elitäre Kernbotschaft des Front National, dass die politische Elite nicht das Volk vertritt, kann durch dieses unrepräsentative Parlament neue Nahrung erhalten. Macrons Präsidentschaft dürfte also, vor allem wenn er sein Versprechen einer „neuen Politik“ nicht erfüllen kann, nicht nur viele Franzosen frustrieren, sondern die zentrale These des Front National in den Augen seiner Anhänger bestätigen. Denn der neue Präsident und seine Partei können tatsächlich nicht behaupten, dass das Volk hinter ihnen steht.
Nein, die Krise Frankreichs steht durch Macron keineswegs vor ihrem Ende. Vermutlich hat sie ihren Höhepunkt noch nicht einmal erreicht.