WirtschaftsWoche: Herr Biedenkopf, in Ihrer Laufbahn als Wissenschaftler und Politiker haben Sie sich immer wieder mit der Frage nach dem Wirtschaftswachstum befasst. Schon in den späten 1960er Jahren, als die erste große Koalition regierte und Karl Schiller Wachstum per Gesetz zum Regierungsziel machte, haben Sie ihm mit ordnungspolitischen Argumenten widersprochen.
Kurt Biedenkopf: Auch Ludwig Erhard hat schon gegen den „Wachstumsfetischismus“, wie er das nannte, polemisiert. Er hielt es für Unsinn, Wachstum zur Voraussetzung von Stabilität zu erklären. Wirtschaftswachstum war für ihn das Ergebnis einer guten Politik. In der ersten großen Koalition wurde das Verhältnis umgekehrt. In den Bundestagsdebatten hieß es seinerzeit, Wirtschaftswachstum sei unverzichtbar. Schließlich müssten wir dem Osten beweisen, dass unser System besser sei.
Der Ost-West-Konflikt ist Geschichte, aber das Wachstumsziel wird weiterhin aufrecht erhalten. Wieso eigentlich?
Zum einen wurde an den Wachstumserfahrungen während des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Art Besitzstand festgehalten. Vor allem jedoch erleichtert ein dauerhaftes Wachstum des BIP das Regieren. Denn mit ihm wächst die Verteilungsmasse. Das erlaubt der Politik, neue Aufgaben – und politische Geschenke - aus dem Zuwachs zu finanzieren ohne in bestehende Besitzstände eingreifen zu müssen. Die Sozialpolitiker, deren Systeme rund 30 Prozent des BIP beanspruchen, haben eine erstaunliche Fertigkeit entwickelt, nicht nur ihre Besitzstände zu schützen. Sie nehmen mit ihnen auch selbst am Wachstum teil.
Zur Person
Kurt Biedenkopf war in den 1960er Jahren in Bochum der jüngste Hochschulrektor der Bundesrepublik. Zwischen 1973 und 1977 war er Generalsekretär der CDU, 1976 bis 1980 und 1987 bis 1990 Bundestagsabgeordneter. 1990 bis 2002 war Biedenkopf Ministerpräsident des Freistaats Sachsen. Er ist Autor zahlreicher Bücher.
So angenehm dieses Verfahren für Politiker sein mag, die gewählt werden wollen, so gefährlich ist es für die Gesellschaft als Ganzes. Denn es verstellt den Blick auf die politischen Notwendigkeiten, vorhandene Ressourcen, die in Besitzständen gebunden sind, neu und zukunftsorientiert zu nutzen. Die Rentenpolitik bietet dafür eindrucksvolle Beispiele. Je mächtiger die Besitzstände, umso notwendiger wird deshalb das Wachstum. Man kann auch sagen: Wachstum zur Sicherung von Besitzständen; und wenn nicht anders möglich, dann durch Staatsschulden finanziert. So hat sich eine Art „Knechtschaft des Wachstums“ entwickelt. Unser BIP muss wachsen, lautet die Parole, damit unsere Wünsche erfüllbar bleiben – statt: Wir müssen besser und leistungsfähiger werden, damit unsere Wünsche erfüllbar bleiben. Je höher unser Lebensstandard, umso schwieriger ist das – es sei denn, wir schaffen durch Schulden eine Wachstums-Illusion.
Was meinen Sie damit konkret?
Betrachten wir als Beispiel eine normale Familie: Vater und Mutter arbeiten. Also brauchen wir eine Infrastruktur für die Kinderbetreuung. Die war kostenlos, erschien also nicht im BIP. Jetzt kostet sie. Die Arbeit, mit der Vater und Mutter das Frühstück bereiten, wird im BIP nicht registriert. Das Frühstück im Coffee-Shop oder im Kindergarten wird registriert. Wann immer wir durch nicht bezahlte Leistungen eine Wertschöpfung erbringen, werden sie nicht gemessen. Werden sie aus unserem Lebensbereich in den Markt verlagern, wächst das BIP. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Wachstums entsteht so durch die Externalisierung von bislang kostenlosen, hauptsächlich im Haushalt erbrachten Leistungen.
Mit ihrer Verlagerung in den Markt werden sie zu beruflichen Tätigkeiten, ob im Coffee-Shop oder im Kindergarten. Hier meldet sich dann auch Herr Bsirske und fordert höhere Einkommen für Erzieherinnen. Ihre Ausbildung wird akademisiert, ihre Tätigkeit damit wertvoller. Auch diese Kosten müssen erarbeitet werden. Bleibt das BIP konstant, können die zunehmend externalisierten Leistungen aus ihm nicht bezahlt werden. Es sei denn, wir nehmen eine Reduktion des Lebensstandards in Kauf. Das wiederum will niemand. Die Wirtschaft wächst somit nicht nur im engeren ökonomischen Bereich. Sie wächst auch als Folge der Kommerzialisierung bisher im Haushalt integrierter Leistungen. Ob das zu einer Verbesserung des Lebensstandards und der Lebensqualität führt, ist nicht immer sicher.
Nach einer wachstumsfördernden Politik rufen in der Regel vor allem die Interessenvertreter der Unternehmen.
Ein Unternehmen ist nicht an generellem Wachstum interessiert, sondern an seinem eigenen Wachstum. Das ist etwas völlig anderes.
"Die Volksweisheit weiß: Not macht erfinderisch"
Der Finanzsektor ist durchaus am volkswirtschaftlichen Wachstum interessiert.
Soweit sich aus dem Wachstum ständige Umschichtungen unternehmerischer Einheiten ergeben ist der Finanzsektor in Gestalt des Investmentbankings durchaus interessiert. Nicht immer handelt es sich dabei jedoch um einen Beitrag zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum.
Eine Volkwirtschaft muss also eigentlich nicht unbedingt stetig wachsen, wie es in den Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre steht?
Ich frage mich schon lange zweierlei:
1. Warum predigen uns selbst Nobelpreisträger der Ökonomie, weiteres nachhaltiges Wachstum sei unverzichtbar? Sie wissen doch, dass das empfohlene Wachstum nach einer exponentiellen Kurve verläuft – ebenso wie die Schulden, mit denen wir es finanzieren. Ein exponentieller Verlauf – immer schneller, immer mehr – ist instabil. Er endet in Zusammenbrüchen, nicht nur von Banken.
2. Warum empfehlen sie uns eine ständig wachsende Geldvermehrung durch Geldschöpfung mit dem Versprechen, dass dadurch mehr Arbeitsplätze entstehen werden?
Reaktionen zu möglichen Grenzschließungen
Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverband BGA, warnt im "Tagesspiegel" vor Grenzschließungen. Rund 70 Prozent des deutschen Außenhandels würden innerhalb Europas abgewickelt. "Vor diesem Hintergrund werden sich die Kosten alleine für die internationalen Straßentransporte um circa drei Milliarden Euro verteuern."
"Durch Staus und Wartezeiten, zusätzliche Bürokratie oder zum Beispiel die Umstellung von Just-in-time-Lieferung auf deutlich teurere Lagerhaltung können sich die Kosten für die deutsche Wirtschaft schnell auf zehn Milliarden Euro pro Jahr summieren", mahnt DIHK-Geschäftsführer Martin Wansleben.
Der Vize-Präsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), sagte der "Rheinischen Post": „Die Schließung der deutschen Grenzen wäre ein Debakel für die Flüchtlinge, für die Wirtschaft, aber auch für Millionen Pendler und Urlauber.“
"Verstärkte Kontrollen ist was anderes, aber eine komplette Schließung ist absolut illusorisch. Und man sollte den Leuten da keine Scheinlösungen anbieten“, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley im Deutschlandfunk.
"Wenn die Grenzen geschlossen würden, ist Schengen gefährdet. Das hat ebenfalls große Auswirkungen auf Deutschland, auf Arbeitsplätze in Deutschland", sagte der nordrhein-westfälische CDU-Landesvorsitzende Armin Laschet.
In Deutschland haben derzeit mehr Menschen als je zuvor einen Arbeitsplatz, obwohl das BIP kaum wächst. Angeblich sollen die Schulden zu einem Wachstum des BIP führen, aus dem dann die entstandenen Schulden zurückgezahlt werden können. Aber aus mehr Geld wird nur mehr Arbeit entstehen, wenn sich genug unternehmende Menschen finden, die in der Lage sind, Arbeit zu schaffen. Was muss geschehen, dass sie gefunden und motiviert werden?
Käme einer Gesellschaft, deren Wirtschaft nicht mehr wächst, nicht auch jegliche Dynamik abhanden?
Die Frage beschränkt die Antwort auf die Annahme, dass Menschen nur innovativ werden, wenn alles wächst und das Geld extrem billig ist. Die Volksweisheit weiß: Not macht erfinderisch. Meine Zuhörer sind oft irritiert, wenn es um das Wachstum geht. Ich frage sie dann, ob sie schon mal im Wald waren. Klar. Wächst da was? Natürlich. Warum wird der Wald dann nicht immer größer? Weil alles wächst und wieder vergeht, das Gesetz der Natur. Dieses Gesetz vom Wachsen und Vergehen wird in der Wirtschaft ausgeklammert. In Wirklichkeit kann eine Gesellschaft wachsen: durch Intelligenz, durch kulturelle Weiterentwicklung oder durch die Steigerung ihrer Produktivität. Aber immer geht es um Wachstum der Intelligenz, um unser Produzieren intelligenter und mit weniger Rohstoffen und Energie zu organisieren, statt um die einfache Vermehrung von Gütern und Dienstleistungen.
Ein gewichtiges Argument für die Notwendigkeit weiterer Steigerung des BIP ist die Bewahrung der inneren Stabilität unserer Gesellschaft.
Es ist nicht nur fragwürdig, sondern gefährlich, dass wir in der westlichen Welt die Stabilität unserer gesellschaftlichen Strukturen, unserer Sozialsysteme und den inneren Frieden von der ständigen Steigerung unseres Konsums abhängig machen. Exponentielle Entwicklungen, wie unsere Wachstumskurve, können alleine kein Gleichgewicht finden – ebenso wie durch Wettbewerb allein keine Integration bewirkt wird. Früher oder später verliert die Gesellschaft die Kontrolle über derartige eindimensionale Entwicklungen. Wann die Instabilität politisch wirksam wird, weiß man genauso wenig, wie man weiß, wann der Zustrom von Einwanderern die Absorptionsfähigkeit eines Landes überschreitet. Beides führt dann aber nicht zu einem kontrollierten Gleichgewicht, sondern dazu, dass sich der Aggregatzustand einer Gesellschaft, also deren grundlegende Befindlichkeit, ändert. Diese Veränderung findet in einer Chaos-Phase statt, in der zunächst niemand weiß, wo er hingehört, was er zu tun hat, wie die bekannte Ordnung aufrecht erhalten werden kann und welche Gestalt die neue Ordnung haben wird. Es gerät eben alles aus den Fugen. Der Westen ist von diesem Zustand nicht mehr sehr weit entfernt. Und mit weiterer Geldvermehrung wird er nicht stabilisierbar.
"Die Religion ist nichts Irrationales"
Wie kommt man aus diesem Schlamassel raus?
Der Verlauf chaotischer Prozesse ist prinzipiell nicht vorhersehbar. Deshalb gehört es ja zu den vornehmsten Plichten der Governance, eine derartige Entwicklung zu vermeiden. Derzeit geht es uns wie dem Zauberlehrling, nur dass wir nicht auf den Meister hoffen können. Eins jedoch ist sicher: Wenn wir uns nicht lösen aus der tief eingegrabenen Vorstellung, unsere Gesellschaft brauche eine ständige Zunahme all dessen, was wir produzieren und verteilen, um stabil zu bleiben, dann wird sie in absehbarer Zeit nicht mehr überlebensfähig und für die Mehrheit der Menschheit auch nicht mehr schutzwürdig sein. Dann bricht sie in einer oder zwei Generationen auseinander. Verstärkt wird der Prozess mit der zunehmenden Fragmentierung der Gesellschaft durch die elektronischen Medien. Tatsächlich sind die so genannten sozialen Netzwerke nicht sozial. In ihnen entstehen keine Gemeinschaften, die stabil und belastbar sind, keine Brüderlichkeit und Nächstenliebe. Sie sind Formen der Entgrenzung. Solange es an Begrenzungen fehlt, sind eine Kultur und die Gesellschaft, die in dieser Kultur lebt, nicht nachhaltig. Sie gehen irgendwann ein. Das ist schon oft passiert.
Jared Diamond hat uns das in seinem Buch „Kollaps“ am Beispiel der Osterinsel oder der Wikinger in Grönland gezeigt.
Aber nun hat zum ersten Mal ein solches Fehlverhalten die gesamte Erde erfasst. Ich bin überzeugt, dass die Menschen sich auch deshalb wieder stärker nach Geboten sehnen werden, die ihren Wunsch nach Begrenzung unterstützen. Seit Urzeiten suchen sie nach einem Wesen, einer Autorität, einer Kraft, die als Götter oder Gott unerreichbar sind. Deren Gebote man nicht verändern kann. Um zu überleben haben die Menschen zu allen Zeiten derartige Normen entwickelt. Die Zehn Gebote sind die Urverfassung einer lebensfähigen Gesellschaft. Die Religion ist nichts Irrationales, sondern eine Entdeckung, für die der Mensch Vernunft brauchte; um zu erkennen, was die nachhaltige Existenz einer menschlichen Gesellschaft über einen langen Zeitraum sichern kann. In unserer Gesellschaft wird nun exponentielle Expansion gefordert. Das zeigt, dass uns diese Vernunft abhanden gekommen ist. So muss sich am Ende ein Parlament selbst Fesseln anlegen – ich denke an die Schuldenbremse – aber gleichzeitig sprengt ein übermäßiger politischer Druck diese Fessel schon wieder –oder wird, wie derzeit in Portugal schlicht abgeworfen. Die Bindung erweist sich als wertlos.
Apropos Grenzen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Frage des Wirtschaftswachstums und der aktuellen Einwanderungsproblematik?
Diesen Zusammenhang gibt es. Weiteres exponentielles Wachstum in Europa ist im Blick auf Ungleichheiten und Not der Welt unmoralisch. Denn es ist nur zu haben, wenn wir dafür einen wesentlichen Anteil der Ressourcen der Welt beanspruchen. Europäer und Amerikaner nahmen während der Kolonialzeit ohne Rücksicht auf die Afrikaner afrikanische Ressourcen in Anspruch. Vielfach auch heute noch. Es wird keine Ausbeutung Afrikas mehr geben. In rund 25 Jahren werden in Europa rund 700 Millionen Menschen leben, in Afrika rund 2,4 Milliarden. Seit 30 Jahren habe ich in Brüssel und anderswo gefordert: Europa muss sich um Afrika kümmern. Das Mittelmeer ist nicht das Meer der amerikanischen 6. Flotte. Es ist ein europäisches Meer. Wir haben es von den Römern geerbt. Die trugen damals Verantwortung für alle Küsten des Mittelmeeres. Wenn wir Europäer die Verantwortung für die Folgen unserer Ausbeutung verweigern, während sich in Afrika als Folge der Klimaerwärmung die Wüsten ausdehnen und das Wasser knapp wird, im Mittleren Osten Krieg herrscht und die Afrikaner gleichzeitig sehen können, wie wir in Europa leben, dann wollen sie zu uns kommen. Denn hier gibt es sauberes Wasser, das Land ist grün und fruchtbar und es herrscht Frieden.
Die deutsche Lebenslüge, kein Einwanderungsland zu sein, scheint zumindest vom Tisch.
Wir haben uns sehr lange gewehrt, ein Einwanderungsland zu sein. Vor allem unter Helmut Kohl. Das war falsch.
Ist es nicht ebenso verlogen, dass wir den derzeitigen Einwanderungszustrom unter den Begriffen „Asyl“ und „Flüchtlinge“ verbuchen?
Uns fehlen eine Einwanderungspolitik und die Gesetze dazu. Wir wissen, dass viele Menschen nicht nur aus akuter Not kommen. Sie wollen hier besser leben. Asyl bedeutet: Wenn jemand verfolgt wird, nehmen wir ihn auf. Sonst nicht. Das hat nichts mit Einwanderung zu tun. Deswegen brauchen wir einsichtige Unterscheidungen. Jeder Zuwanderer, der wieder nach Hause geschickt werden soll, stellt uns vor ein Problem.
Es sind die Bilder von weinenden Kindern vor dem Flugzeug, die unser Mitleid und schlechtes Gewissen erzeugen. In Wirklichkeit ist die Aufrechterhaltung des jetzigen Zustands weniger moralisch als die ehrliche Entscheidung darüber, wen wir hier haben wollen.
Kann die Einwanderung in der aktuellen Größenordnung noch lange weitergehen?
Wohl kaum. Die Entwicklung ist aus den Fugen geraten. Wer Politik nur empathisch macht, verliert die Orientierung. Deshalb müssen wir weiter nach Antworten suchen. Viel Aufklärung auch über unsere Interessen ist notwendig. Als Folge der Geschwindigkeit der Ereignisse könnte die Toleranzgrenze der Europäer bald überschritten sein. Aber ohne europäische Gemeinsamkeit werden die Europäer an der Zukunft scheitern.