Wie kommt man aus diesem Schlamassel raus?
Der Verlauf chaotischer Prozesse ist prinzipiell nicht vorhersehbar. Deshalb gehört es ja zu den vornehmsten Plichten der Governance, eine derartige Entwicklung zu vermeiden. Derzeit geht es uns wie dem Zauberlehrling, nur dass wir nicht auf den Meister hoffen können. Eins jedoch ist sicher: Wenn wir uns nicht lösen aus der tief eingegrabenen Vorstellung, unsere Gesellschaft brauche eine ständige Zunahme all dessen, was wir produzieren und verteilen, um stabil zu bleiben, dann wird sie in absehbarer Zeit nicht mehr überlebensfähig und für die Mehrheit der Menschheit auch nicht mehr schutzwürdig sein. Dann bricht sie in einer oder zwei Generationen auseinander. Verstärkt wird der Prozess mit der zunehmenden Fragmentierung der Gesellschaft durch die elektronischen Medien. Tatsächlich sind die so genannten sozialen Netzwerke nicht sozial. In ihnen entstehen keine Gemeinschaften, die stabil und belastbar sind, keine Brüderlichkeit und Nächstenliebe. Sie sind Formen der Entgrenzung. Solange es an Begrenzungen fehlt, sind eine Kultur und die Gesellschaft, die in dieser Kultur lebt, nicht nachhaltig. Sie gehen irgendwann ein. Das ist schon oft passiert.
Jared Diamond hat uns das in seinem Buch „Kollaps“ am Beispiel der Osterinsel oder der Wikinger in Grönland gezeigt.
Aber nun hat zum ersten Mal ein solches Fehlverhalten die gesamte Erde erfasst. Ich bin überzeugt, dass die Menschen sich auch deshalb wieder stärker nach Geboten sehnen werden, die ihren Wunsch nach Begrenzung unterstützen. Seit Urzeiten suchen sie nach einem Wesen, einer Autorität, einer Kraft, die als Götter oder Gott unerreichbar sind. Deren Gebote man nicht verändern kann. Um zu überleben haben die Menschen zu allen Zeiten derartige Normen entwickelt. Die Zehn Gebote sind die Urverfassung einer lebensfähigen Gesellschaft. Die Religion ist nichts Irrationales, sondern eine Entdeckung, für die der Mensch Vernunft brauchte; um zu erkennen, was die nachhaltige Existenz einer menschlichen Gesellschaft über einen langen Zeitraum sichern kann. In unserer Gesellschaft wird nun exponentielle Expansion gefordert. Das zeigt, dass uns diese Vernunft abhanden gekommen ist. So muss sich am Ende ein Parlament selbst Fesseln anlegen – ich denke an die Schuldenbremse – aber gleichzeitig sprengt ein übermäßiger politischer Druck diese Fessel schon wieder –oder wird, wie derzeit in Portugal schlicht abgeworfen. Die Bindung erweist sich als wertlos.
Apropos Grenzen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Frage des Wirtschaftswachstums und der aktuellen Einwanderungsproblematik?
Diesen Zusammenhang gibt es. Weiteres exponentielles Wachstum in Europa ist im Blick auf Ungleichheiten und Not der Welt unmoralisch. Denn es ist nur zu haben, wenn wir dafür einen wesentlichen Anteil der Ressourcen der Welt beanspruchen. Europäer und Amerikaner nahmen während der Kolonialzeit ohne Rücksicht auf die Afrikaner afrikanische Ressourcen in Anspruch. Vielfach auch heute noch. Es wird keine Ausbeutung Afrikas mehr geben. In rund 25 Jahren werden in Europa rund 700 Millionen Menschen leben, in Afrika rund 2,4 Milliarden. Seit 30 Jahren habe ich in Brüssel und anderswo gefordert: Europa muss sich um Afrika kümmern. Das Mittelmeer ist nicht das Meer der amerikanischen 6. Flotte. Es ist ein europäisches Meer. Wir haben es von den Römern geerbt. Die trugen damals Verantwortung für alle Küsten des Mittelmeeres. Wenn wir Europäer die Verantwortung für die Folgen unserer Ausbeutung verweigern, während sich in Afrika als Folge der Klimaerwärmung die Wüsten ausdehnen und das Wasser knapp wird, im Mittleren Osten Krieg herrscht und die Afrikaner gleichzeitig sehen können, wie wir in Europa leben, dann wollen sie zu uns kommen. Denn hier gibt es sauberes Wasser, das Land ist grün und fruchtbar und es herrscht Frieden.
Die deutsche Lebenslüge, kein Einwanderungsland zu sein, scheint zumindest vom Tisch.
Wir haben uns sehr lange gewehrt, ein Einwanderungsland zu sein. Vor allem unter Helmut Kohl. Das war falsch.
Ist es nicht ebenso verlogen, dass wir den derzeitigen Einwanderungszustrom unter den Begriffen „Asyl“ und „Flüchtlinge“ verbuchen?
Uns fehlen eine Einwanderungspolitik und die Gesetze dazu. Wir wissen, dass viele Menschen nicht nur aus akuter Not kommen. Sie wollen hier besser leben. Asyl bedeutet: Wenn jemand verfolgt wird, nehmen wir ihn auf. Sonst nicht. Das hat nichts mit Einwanderung zu tun. Deswegen brauchen wir einsichtige Unterscheidungen. Jeder Zuwanderer, der wieder nach Hause geschickt werden soll, stellt uns vor ein Problem.
Es sind die Bilder von weinenden Kindern vor dem Flugzeug, die unser Mitleid und schlechtes Gewissen erzeugen. In Wirklichkeit ist die Aufrechterhaltung des jetzigen Zustands weniger moralisch als die ehrliche Entscheidung darüber, wen wir hier haben wollen.
Kann die Einwanderung in der aktuellen Größenordnung noch lange weitergehen?
Wohl kaum. Die Entwicklung ist aus den Fugen geraten. Wer Politik nur empathisch macht, verliert die Orientierung. Deshalb müssen wir weiter nach Antworten suchen. Viel Aufklärung auch über unsere Interessen ist notwendig. Als Folge der Geschwindigkeit der Ereignisse könnte die Toleranzgrenze der Europäer bald überschritten sein. Aber ohne europäische Gemeinsamkeit werden die Europäer an der Zukunft scheitern.