Ein wenig schadenfroh waren die Verantwortlichen in Brüssel am Sonntag schon. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hatte mit seinem Referendum zur europäischen Flüchtlingspolitik keinen Erfolg. Weniger als 40 Prozent der Ungarn hatten sich beteiligt, mindestens 50 Prozent wären nötig gewesen. Dabei ging die Nachricht, dass 98 Prozent gegen eine Quotenregelung gestimmt hatten, fast schon unter.
Orban wollte im Namen der Bevölkerung eine noch restriktivere Flüchtlingspolitik einleiten. Jetzt muss er das ohne Absolution des Volkes tun, abhalten wird ihn das aber nicht. Und die gegenseitige Missgunst zwischen Budapest und Brüssel zeigt, dass die Europäer auch ein Jahr nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im gegenseitigen Verständnis nicht weitergekommen sind. Dabei gibt es viel, was Deutsche und Europäer insgesamt von Ungarn oder auch Österreich (erst auf Seite der deutschen Bundesregierung, nun gegen sie) lernen können – mindestens drei Punkte.
1. Die EU darf ihren Willen nicht per Mehrheit durchsetzen
Die Lösung scheint so einfach. Hunderttausende Flüchtlinge strömen nach Europa, also werden sie nach einem fairen Schlüssel, der die EU-Länder gleichermaßen belastet, auf dem gesamten Kontinent verteilt und angesiedelt. Das war die Idee von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der EU-Kommission im vergangenen Herbst.
Von den 160.000 Menschen, die die EU-Kommission vor einem Jahr neu ansiedeln wollte, wurden laut EU-Kommission bislang 5651 umverteilt – Stand Ende September 2016. Kurzum: Das Projekt funktioniert weiterhin nicht. Und die Osteuropäer verweigern sich standhaft einer sogenannten Quotenlösung. Almut Möller vom „European Council on Foreign Relations“ meint, dass das Mehrheitsprinzip in der Flüchtlingsfrage an seine Grenzen gestoßen ist. „Wer in Europa gegenwärtig Mehrheiten in Fragen organisieren will, die tief in Identität hineinreichen, darf andere nicht überstimmen“, sagt die Politikwissenschaftlerin.
In den europäischen Hauptstädten wird längst an Alternativen gearbeitet. Wer keine Flüchtlinge aufnehmen will, muss eben andere Aufgaben übernehmen, lautet die Idee. Beispielsweise könnten Osteuropäer wie Ungarn sich überproportional am Schutz der europäischen Außengrenze beteiligen.
2. Die Obergrenze ist besser als ihr Ruf - aber nicht perfekt
Seit über einem Jahr streiten der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) und die Bundeskanzlerin bereits über das Wort „Obergrenze“. Und tatsächlich hat der Begriff eine bemerkenswerte Karriere erlebt. Zu Beginn beharrte ausschließlich die CSU darauf. Mittlerweile spricht sich aber selbst SPD-Chef Sigmar Gabriel, der in dieser Frage lange Zeit an der Seite Merkels stand, für eine Obergrenze aus.
„Entgrenzung macht Menschen Sorge. Begrenzung soll ein Gefühl von Stabilität geben“, sagt EU-Expertin Möller. Genau diesen Ansatz verfolgt auch die österreichische Regierung. Getrieben vom immer stärker werdenden Druck der Bevölkerung legte sich die österreichische Regierung schließlich auf eine Zahl fest: 37.500 Menschen will Wien pro Jahr maximal aufnehmen. Diesen Wert hat die Regierung nie ins Gesetz geschrieben, es ist ein politisches Bekenntnis, eine Zielsetzung. Denn natürlich weiß auch die österreichische Regierung, dass sie einen Asylbewerber, der diese Schwelle überschreitet, nicht einfach zurückschicken kann.
Wie weit reicht das gegenseitige Verständnis?
Das Problem an der Obergrenze ist nicht der Wille, mit ihr Zuwanderung zu begrenzen. Über alle Parteien hinweg sind sich die Verantwortlichen einig, dass das notwendig ist. Eine Obergrenze, Richtwert, Kontingent oder Orientierungswert – für welchen Begriff man sich auch immer entscheidet – kann dabei helfen, dass sich ein Land gar vergewissert, wie viele Menschen es aufnehmen und integrieren kann und möchte. Es wäre ein Bekenntnis, nach den eigenen Fähigkeiten so gut zu helfen wie möglich.
„Die Politik muss aber auch langfristig aufklären, dass die weltweiten Migrationsbewegungen nicht vorbei sind“; meint Almut Möller. Denn diese Bewegungen ließen sich nicht stoppen. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass wieder Menschen zu uns kommen, die sich von definierten Obergrenzen nicht abhalten lassen.“
3. Deutsche Führung unerwünscht
Zuerst hatte Merkel die Solidarität aller Europäer gefordert, dann war sie überrascht und enttäuscht, als diese ausblieb. Die Kanzlerin spricht offen darüber, wie falsch sie die Lage im vergangenen Jahr eingeschätzt hat.
Die Frage ist, welche Konsequenz Berlin aus dieser Erfahrung zieht. Schließlich zeigte Deutschland 2015, dass es führen und vorangehen will. Das erkennen selbst die Osteuropäer an. „Es gibt jedoch starke Stimmen, die sagen, dass wir in die falsche Richtung laufen“, analysiert Möller. Dafür müssten wir mehr Sensibilität entwickeln. „Wir müssen schneller erkennen, wenn andere Länder und Gesellschaften Themen wie die Flüchtlingskrise völlig anders bewerten.“
Die Frage ist nur, wie stark das gegenseitige Verständnis geht. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hatte dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán kürzliche eine massive Verletzung von europäischen Grundwerten vorgeworfen. „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der Welt. Dies sei die einzige Möglichkeit, um den Zusammenhalt der Gemeinschaft zu bewahren.
Auch Almut Möller vom „European Council on Foreign Relations“ glaubt, dass die EU Orban nicht zu weit entgegen kommen darf. „Wenn er mit seinem Umbau des Landes Grundwerte der EU verletzt, muss das Thema sein. Alle verlieren, wenn einzelne die EU von innen aushöhlen, das ist keine nationale Debatte mehr“, sagt Möller.