WirtschaftsWoche: Herr Orlando, wenn wir als Reporter von außen auf Ihr Land schauen, wirkt alles sehr chaotisch: Es gibt Regierungswechsel im Jahresrhythmus, kriminelle Banden mit Donnerhall und ein Zampano, der trotz Verurteilungen das Land regieren will. Warum ist Italien so kompliziert?
Leoluca Orlando: Italien ist selbst in den Augen eines Italieners kompliziert. Es geht bei uns hektisch zu, emotional und manchmal chaotisch. Schreiben Sie Italien dennoch nicht ab. Wir sind gerade dabei, ein neues Italien zu bauen. Denn die vergangenen Jahre haben uns und der ganzen Welt deutliche gemacht: Wir brauchen ein anderes Italien. Ein Land, das den Bürgern dient – und nicht einem Einzelnen.
Sie sprechen von Silvio Berlusconi.
Ich kann seinem Regierungsstil nichts abgewinnen und habe seit jeher versucht, auf seine Schwächen hinzuweisen. Berlusconi muss weg. Aber er ist mächtig und hat viel Unterstützung: innerhalb seiner Partei, in den Medien und auch bei den Wählern. Ich glaube: Ohne die ökonomische Krise wäre Berlusconi längst in die Rente geschickt worden. Aber aufgrund der finanziellen Sorgen der Bürger sind seine inhaltslosen Versprechen stets auf offene Ohren gestoßen. Er hat die Menschen manipuliert und gleichzeitig, Italien immer stärker geschwächt. Er hat in seiner gesamten politischen Karriere nicht zum Wohle Italiens gehandelt, sondern hat nur auf sich und seinen Reichtum geschaut.
Zur Person
Leoluca Orlando (geboren 1947 in Palermo) studierte Rechtswissenschaft in Palermo und Heidelberg und arbeitete anschließend als Professor für Öffentliches Regionalrecht an der juristischen Fakultät der Universität von Palermo. Nachdem er als internationaler Berater für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Paris und zwei Jahre lang für den von der Mafia ermordeten Präsidenten der Region Sizilien tätig war, wurde er 1985 erstmals zum Bürgermeister seiner Heimatstadt gewählt. Schon seine erste Amtszeit bis 1990 wurde als „Frühling von Palermo“ bezeichnet, da unter der Leitung des Sizilianers die Mafia aus der städtischen Wirtschaft und der Politik verdrängt und somit ein politischer Neuanfang eingeleitet werden konnte. 1993 wurde er nach kurzen Abgeordnetenzeiten im sizilianischen und italienischen Parlament bei den ersten direkten Bürgermeisterwahlen in Italien mit 75% der Stimmen erneut zum Oberbürgermeister von Palermo gewählt. 1997 wurde er in seinem Amt bestätigt. Nach weiteren politischen Ämtern – auch auf europäischer Ebene – ist er im Mai 2012 zum vierten Mal zum Bürgermeister von Palermo gewählt worden.
Nun steht er vor dem endgültigen Ausschluss aus dem Senat. Am Mittwoch stimmen die Parlamentarier ab. Ist damit Berlusconis Karriere endgültig beendet?
Ich hoffe, dass Berlusconi aus dem Senat ausgeschlossen wird und bin auch zuversichtlich, dass es so kommt. Dennoch: Es stimmt mich traurig, dass wir erst eine Verurteilung brauchten, um Berlusconi loszuwerden. Die Politik hat verloren. Wir hätten ihm früher Einhalt gebieten müssen. Und ein letzter Punkt zu Berlusconi: Hätte er auch nur ein bisschen Anstand, wäre er längst freiwillig gegangen. Mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens hätte er erkennen müssen, dass er als Politiker nicht mehr tragbar ist. Wir haben schließlich eine Vorbildfunktion. In Deutschland geschieht das ja auch. Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff ist längst zurückgetreten. Dabei startete erst jetzt der Prozess gegen ihn. Stellen Sie sich vor, Wulff wäre jetzt noch im Amt. In Deutschland ist das undenkbar. Bei uns in Italien leider nicht.
Liegt es wirklich nur an einer Person, dass Italien so tief in der Krise steckt?
Nein, das wäre wirklich zu einfach. Es ist ein Zusammenspiel von politischen wie ökonomischen Faktoren, von italienischen wie internationalen Problemen. Wenn die Konjunktur in ganz Europa schwächelt, ist es schwer gegen den Trend zu wachsen. Verlieren Investoren das Vertrauen in den Euro, leidet auch Italien. Dennoch: Die Regierung in Rom hat die Möglichkeiten, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Unternehmen gut arbeiten und die Menschen ein sorgenfreies Leben führen können. Dazu gehört, die Kriminalität zu bekämpfen. Korruption, Drogengeschäfte und Bandenkriege hemmen das ganze Land. All das hat Berlusconi nie getan. Die jetzige Regierung von Ministerpräsident Enrico Letta unternimmt auch zu wenig. Ich glaube, den Weg, den wir in Palermo eingeschlagen haben, ist vorbildlich. Für Sizilien, für Italien und für Südeuropa.
"Der Euro droht die Vertiefung Europas zu gefährden"
Was ist in Palermo passiert?
Unsere Stadt ist ein Beispiel für Nachhaltigkeit geworden. Palermo wurde früher in einem Atemzug mit der Mafia, Kriminalität und Armut genannt. Wir haben dem eine Bürgerbewegung entgegengestellt und die Stadt verändert. Das Teatro Massimo, eines der größten Opernhäuser Europas, blüht wieder. Künstler reißen sich darum, zu uns zu kommen. Einmal im Jahr findet zudem eine Schwulenparade statt, eine der größten in Südeuropa. Das bringt Gäste und Einnahmen – und schafft einen Mentalitätswechsel. Dazu braucht es Visionen.
Hat die italienische Regierung eine Vision?
Ich habe noch von keiner gehört. Im Moment wird an verschiedenen Stellen herumgedoktert. Wichtig wäre es, sich ein Konzept zu überlegen, wie Italien im 21. Jahrhundert bestehen kann. Das gibt es nicht. Die Regierung von Enrico Letta denkt nicht mal bis morgen Früh. Sie muss die entscheidenden Fragen klären. Auch, ob Italien im Euro bleiben soll.
Haben Sie etwa Zweifel an der Euro-Zugehörigkeit des Landes?
Ich bin überzeugter Europäer. Ich saß fünf Jahre im Europaparlament und finde, die Idee der Europäischen Union fantastisch. Für mich ist das vereinte Europa die größte Nachhaltigkeitsrevolution in der Geschichte der Welt.
Wissenswertes über Italien
Das Klima und die mediterrane Küche sind wohl ausschlaggebend für die hohe Lebenserwartung der Italiener. In Europa führen sie die Liste aller OECD-Staaten an, weltweit belegen sie den zweiten Platz. Die Lebenserwartung beträgt bei Frauen circa 83 Jahre, bei Männern 78 Jahre. Ungefähr 19 Prozent der Italiener sind älter als 65 Jahre.
Dennoch ist auch im Stiefelstaat der Trend zum Übergewicht festzustellen. Italien hat der adipösen Gesellschaft den Kampf angesagt und so gibt es in Italien einige Krankenhäuser, die sich ausschließlich um fettleibige Patienten kümmern.
Der Süßwarenfabrikant Michele Ferrero ist der reichste Mann Italiens. Sein Vermögen wird auf 17 Milliarden Dollar geschätzt. Leonardo Del Vecchio, Gründer von Luxottica, folgt auf Rang zwei.
Die italienische Landwirtschaft spielt insgesamt keine große Rolle. In zwei Bereichen sind die Italiener dennoch Weltspitze: So produzierte das Land 2010 rund 44,8 Millionen Hektoliter Wein. Nur Frankreich stellt mehr Wein her. Außerdem ist Italien, nach Spanien, der zweitgrößte Erzeuger von Olivenöl.
Italiens Handelspartner befinden sich in direkter Nähe zu dem Land. Deutschland ist der wichtigste Partner, gefolgt von Frankreich. Italiens Produkte erfreuen sich besonders in Großbritannien, Spanien und den USA großer Beliebtheit. Importiert wird aus den Niederlanden, China, Libyen und Russland.
Eindeutig Brillen herstellen! Denn Luxottica, mit Sitz in Agordo (Provinz Belluno) ist der weltgrößte Brillenhersteller. Seit 1995 kauft das italienische Unternehmen US-Marken wie Ray-Ban und Oakley auf.
Mailand, Turin und Genua sind die größten Wirtschaftszentren Italiens. Sie sind Teil des europäischen Wirtschaftsraumes, der durch neun Länder führt und "Blaue Banane" heißt. Zentrale Einrichtungen der Europäischen Union und 20 Weltstädte befinden sich in der Zone. Hier sind die Bevölkerung, die Wirtschaft, das Kapital und die Infrastruktur sehr gut verwoben und bilden somit eine wirtschaftliche Achse Europas. Vergleichbar ist dieser Wirtschaftsraum mit BosWash in den USA.
Kuriose Gesetze sind in Italien keine Seltenheit. So müssen Hunde dreimal täglich Gassi gehen. Die Polizei darf sich bei den Nachbarn auch erkundigen, ob dies eingehalten wird. Hohe Geldstrafen sind ausgesetzt, wer sich nicht an die Gesetze halten will. Wer sich in der Lombardei abends auf einer Bank ausruhen will, muss sich vergewissern, dass nicht mehr als drei Personen Platz nehmen. Denn in einem öffentlichen Park ist dies streng reglementiert.
Italien ist das Land mit den meisten Welterbestätten. Italien ist in Besitz von 100.000 Denkmälern. Darunter befinden sich nicht nur Kirchen, Galerien und Schlösser. Auch archäologische Funde, Brunnen und Villen fallen unter den Denkmalschutz.
Sie weichen der Frage, nach dem Euro aus.
Nur Geduld, eines nach dem Anderen. Ich stelle fest, dass immer mehr Bürger eine negative Meinung zum Euro haben. Sie geben der Gemeinschaftswährung die Schuld dafür, dass das Leben teurer wird und die Arbeitslosigkeit ansteigt. Der Wahlerfolg der Protestbewegung von Beppe Grillo ist der beste Beweis für meine These. Ich fürchte, dass mit der steigenden Kritik an dem Euro auch die Akzeptanz für Europa leidet. Der Euro droht also das historische Projekt, die Vertiefung Europas durch die Europäische Union, zu gefährden. Das sollte uns allen eine Warnung sein.
Im Mai kommenden Jahres sind Europawahlen. Haben Sie Angst, dass die Populisten starken Zulauf erhalten?
Oh ja. Die Europawahl wird ein kritischer Moment für die europäische Idee.
Zurück zur Gemeinschaftswährung: Teilen Sie die Kritik der Bürger am Euro?
Ich bin nicht per se gegen den Euro. Ich bin aber dagegen, dass den Europäern eine Politik gegen ihren Willen aufgezwungen wird. Derzeit wird das Wohl der Euro-Zone nicht in Parlamenten entschieden, sondern durch den EU-Rat und die Europäische Zentralbank. Wer hat ihnen das Recht gegeben, über uns zu entscheiden? Das ist nicht demokratisch. Es gibt Institutionen in Europa, die handeln wie Gott. Und der Euro ist ihre Kirche, sprich: ihr Symbol der Macht.
Ginge es Italien ohne den Euro besser?
Wir sind in erster Linie nicht wegen dem Euro in der Krise, sondern wegen der Wirtschafts- und Finanzpolitik in Italien und in Europa. Die italienische Regierung hat überall den Rotstift angesetzt. Heute ist die Lage so: Wir haben kein Geld für Sozialhilfe, wir haben kein Geld für öffentlichen Verkehr und wir haben kein Geld für Schulen. Wir haben keine Wirtschaftsprogramme und keine Idee, die heimische Wirtschaft zu stärken. Die italienische Regierung kürzt und kürzt und verschlimmert die Krise. Ohne Wachstum kommen wir nicht aus der misslichen Lage. Um es ganz klar zu sagen: Einen Euro, der uns in die Deflation treibt und immer neue Sparvorschriften auferlegt, hilft uns nicht.
Bootsflüchtlinge sind ein "europäisches Problem"
Europa steckt in der Krise. Dennoch träumen Zehntausende Afrikaner davon, bei uns zu leben und zu arbeiten. Viele versuchen übers Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Im Spätsommer sind tausende Afrikaner auf der Flucht nach Europa umgekommen. Die Bootsflüchtlinge, die überlebt haben, hausen in Lagern auf Lampedusa oder Sizilien. Wie können wir ihr Leid mildern?
Es ist eine Tragödie, wie viele Menschen ihr Leben riskieren und verlieren, um zu uns zu kommen. Wir müssen einen Weg finden, die Schleuser in Afrika dingfest zu machen. Sie verdienen am Leid der Menschen und schicken sie auf eine Odyssee in alten Booten. Die Menschen, die Italien erreichen, werden von uns so gut es geht versorgt. Ihnen geht es gut, sie müssen kein Leid fürchten. Auf Sizilien gibt es keine feindliche Stimmung gegenüber den Bootsflüchtlingen.
Aber sie sind weit entfernt davon, ein freies und glückliches Leben zu führen.
Ich bin bereit, einen Teil der Flüchtlinge aufzunehmen. Sie können von mir aus in Palermo leben und arbeiten. Aber wir sprechen von Zehntausenden Flüchtlingen. Wir sind zu klein! Können wir all die Menschen nur auf Sizilien aufnehmen? Nein, dafür sind wir zu klein. Können wir all die Menschen in Italien aufnehmen? Nein, auch Italien ist dafür zu klein. Es ist ein europäisches Problem, für das wir die Hilfe unserer Nachbarn brauchen.
Die EU-Gesetzgebung ist eindeutig. Das Land, in dem die Flüchtlinge zuerst europäischen Boden betreten, ist für die Menschen verantwortlich.
Aber wir haben nicht genug Gebäude, nicht genügend Nahrungsmittel und einfach nicht die nötige Infrastruktur, um alle aufzunehmen. Hinzu kommt: Die Menschen wollen doch gar nicht in Lampedusa oder in Corleone leben. Sie wollen nach Norditalien, nach Frankreich, nach Deutschland. Wir haben innerhalb Europas keine Grenzen mehr – überlassen es aber einzelnen Staaten, die Grenzen zu sichern. Das funktioniert nicht. Wir brauchen bei der Prävention in Afrika Hilfe, bei der Aufnahme der Flüchtlinge und bei der Grenzsicherung.
Streit über die Wirtschaftspolitik, Streit über den Euro und Streit um Flüchtlinge: Warum lohnt es sich, für das vereinte Europa dennoch zu kämpfen?
Ich habe fünf Jahre im Europäischen Parlament gesessen. Das war oft kontrovers, ich bin verzweifelt an Kollegen und an der Bürokratie. Aber wir hatten alle eine Gemeinsamkeit: Die Überzeugung, dass wir in Freiheit und Frieden leben wollen. Und das gelingt nur miteinander. Auch wirtschaftlich kann Europa Gutes bewirken. Der Binnenmarkt ist für uns alle wichtig. Deutschland wie Italien wie Spanien profitieren davon. Europa ist nur gemeinsam stark. Auch wenn es derzeit ähnlich chaotisch aussieht wie das Leben in Italien.
Leoluca Orlando ist Ehrenpreisträger des Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2013. Er hat den Preis am 21. November in Düsseldorf verliehen bekommen. Vor der Veranstaltung fand das Interview statt.