Liberalismus "Aufpassen, dass wir nicht vom Staat überrollt werden"

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Larry Siedentop sorgt sich um den Liberalismus. Im Interview erklärt er was Europa von den USA lernen kann – und was ihn an der EU stört.

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Larry Siedentop Quelle: imago

WirtschaftsWoche Online: Herr Siedentop, der Liberalismus ist mindestens zweihundert Jahre alt, seine Wurzeln gehen bis in die Antike zurück. Warum droht die freiheitliche Idee aus der Mode zu kommen?
Herr Larry Siedentop: Der Liberalismus steckt in der Krise, ich würde gar sagen: in einer Existenzkrise, weil wir ihn falsch verstehen. Seit 15 bis 20 Jahren reduzieren wir den Begriff auf deregulierte, möglichst freie Märkte. Das ist ein Trend, den wir vor allem in den USA beobachten, der sich aber längst auch in Europa durchgesetzt hat.

Zur Person

Was verstehen Sie denn unter Liberalismus?
Ich würde mich der Frage historisch nähern. Liberale verbindet seit jeher, dass sie alle Menschen als gleich betrachten. Die Vereinigten Staaten haben das wunderschön in ihre Verfassung festgeschrieben: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal“ (auf Deutsch: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden“). Daraus folgen klare Aufgaben für den Staat…

… etwa dafür zu sorgen, dass dieser Anspruch erfüllt wird. Wir stellen aber zunehmend fest, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind – die Chancen im Westen aber längst nicht mehr gleich verteilt sind.
Das ist in der Tat ein Problem. Wenngleich die Chancengleichheit, was ja primär eine Verteilungsfrage ist, eine Herausforderung für den Liberalismus seit seinen Anfängen ist. Eine Gesellschaft ohne Chancengleichheit kann keine liberale Gesellschaft sein.

Die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Metamorphose IIn der Frühphase des Kapitalismus werden aus Landarbeitern Handwerker: Webstuhl im 19. Jahrhundert in England. Quelle: imago / united archives international
Metamorphose IIMit der Industrialisierung werden aus Handwerkern Arbeiter: Produktion bei Krupp in Essen, 1914. Quelle: dpa
Metamorphose IIIIm Wissenskapitalismus werden Arbeiter zu Angestellten und Proletarier zu Konsumenten: Produktion von Solarzellen in Sachsen. Quelle: dpa
Ort der VerteilungsgerechtigkeitDen reibungslosen Tausch und die Abwesenheit von Betrug – das alles musste der Staat am Markt anfangs durchsetzen. Quelle: Gemeinfrei
Ort der KapitalkonzentrationDer Börsenticker rattert, die Märkte schnurren, solange der Staat ein wachsames Auge auf sie wirft Quelle: Library of Congress/ Thomas J. O'Halloran
Ort der WachstumsillusionWenn Staaten Banken kapitalisieren, sind das Banken, die Staaten kapitalisieren, um Banken zu kapitalisieren... Quelle: AP
Karl MarxFür ihn war der Unternehmer ein roher Kapitalist, ein Ausbeuter, der Arbeiter ihrer Freiheit beraubt. Quelle: dpa

Was also ist zu tun?
Wir müssen uns als Gesellschaft öffnen und die scheinbar Schwachen stärken, sie integrieren. Sei es durch Qualifikationsprogramme – oder durch eine neue Willkommenskultur. Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen in die EU-Staaten strömen, nur um dann an den Rand gedrängt werden. Hier können wir zweifelsohne von den USA lernen, die ein Einwanderungsland sind und diese Rolle auch annehmen.

Die Vereinigten Staaten mögen traditionell aufgeschlossener gegenüber Migration sein, auch wenn sie auf die aktuelle Flüchtlingswelle im Nahen Osten zurückhaltend reagieren, ja. Aber: Chancengleichheit zwischen den verschiedenen Ethnien in den USA besteht doch längst nicht.
Stimmt. Es reicht nicht, die Menschen mit offenen Armen zu empfangen und sich dann in „gated-communities“, also in abgesperrte Viertel für Reiche, zurückzuziehen. Wir brauchen flächendeckend gute Schulen, eine Vermischung aller Bürger und einen gemeinsamen Antrieb. An den ersten beiden Punkten müssen die USA dringend arbeiten, die gemeinsame Leitidee, der gemeinsame Traum, der ist zumindest vorhanden.

Kann staatliche Wirtschaftspolitik für mehr Chancengleichheit sorgen  – indem sie etwa wie einen Mindestlohn einführt?
Wir sollten nicht immer nach dem Staat rufen. In bestimmten Branchen mag der Mindestlohn gut sein, aber ich kann mir auch gut vorstellen, dass Studenten oder Ungelernte für einen geringeren Obolus arbeiten können und wollen – und ihnen Chancen geraubt werden. Die Frage nach dem Mindestlohn ist nur ein Mini-Aspekt. Die viel wichtigere Frage ist das große Ganze – also die Rolle des Staates insgesamt. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht vom Staat überrollt werden.

 

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