WirtschaftsWoche Online: Herr Siedentop, der Liberalismus ist mindestens zweihundert Jahre alt, seine Wurzeln gehen bis in die Antike zurück. Warum droht die freiheitliche Idee aus der Mode zu kommen?
Herr Larry Siedentop: Der Liberalismus steckt in der Krise, ich würde gar sagen: in einer Existenzkrise, weil wir ihn falsch verstehen. Seit 15 bis 20 Jahren reduzieren wir den Begriff auf deregulierte, möglichst freie Märkte. Das ist ein Trend, den wir vor allem in den USA beobachten, der sich aber längst auch in Europa durchgesetzt hat.
Zur Person
Larry Siedentop, geboren 1936 in Chicago, war Inhaber des ersten Lehrstuhls für intellektuelle Geschichte in Großbritannien an der Universität von Sussex. Von dort wechselte er an die Universität Oxford, wo er politische Philosophie und Ideengeschichte am Keble-College lehrte.
Was verstehen Sie denn unter Liberalismus?
Ich würde mich der Frage historisch nähern. Liberale verbindet seit jeher, dass sie alle Menschen als gleich betrachten. Die Vereinigten Staaten haben das wunderschön in ihre Verfassung festgeschrieben: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal“ (auf Deutsch: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden“). Daraus folgen klare Aufgaben für den Staat…
… etwa dafür zu sorgen, dass dieser Anspruch erfüllt wird. Wir stellen aber zunehmend fest, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind – die Chancen im Westen aber längst nicht mehr gleich verteilt sind.
Das ist in der Tat ein Problem. Wenngleich die Chancengleichheit, was ja primär eine Verteilungsfrage ist, eine Herausforderung für den Liberalismus seit seinen Anfängen ist. Eine Gesellschaft ohne Chancengleichheit kann keine liberale Gesellschaft sein.
Was also ist zu tun?
Wir müssen uns als Gesellschaft öffnen und die scheinbar Schwachen stärken, sie integrieren. Sei es durch Qualifikationsprogramme – oder durch eine neue Willkommenskultur. Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen in die EU-Staaten strömen, nur um dann an den Rand gedrängt werden. Hier können wir zweifelsohne von den USA lernen, die ein Einwanderungsland sind und diese Rolle auch annehmen.
Die Vereinigten Staaten mögen traditionell aufgeschlossener gegenüber Migration sein, auch wenn sie auf die aktuelle Flüchtlingswelle im Nahen Osten zurückhaltend reagieren, ja. Aber: Chancengleichheit zwischen den verschiedenen Ethnien in den USA besteht doch längst nicht.
Stimmt. Es reicht nicht, die Menschen mit offenen Armen zu empfangen und sich dann in „gated-communities“, also in abgesperrte Viertel für Reiche, zurückzuziehen. Wir brauchen flächendeckend gute Schulen, eine Vermischung aller Bürger und einen gemeinsamen Antrieb. An den ersten beiden Punkten müssen die USA dringend arbeiten, die gemeinsame Leitidee, der gemeinsame Traum, der ist zumindest vorhanden.
Kann staatliche Wirtschaftspolitik für mehr Chancengleichheit sorgen – indem sie etwa wie einen Mindestlohn einführt?
Wir sollten nicht immer nach dem Staat rufen. In bestimmten Branchen mag der Mindestlohn gut sein, aber ich kann mir auch gut vorstellen, dass Studenten oder Ungelernte für einen geringeren Obolus arbeiten können und wollen – und ihnen Chancen geraubt werden. Die Frage nach dem Mindestlohn ist nur ein Mini-Aspekt. Die viel wichtigere Frage ist das große Ganze – also die Rolle des Staates insgesamt. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht vom Staat überrollt werden.