London gilt ohnehin als spezieller Mikrokosmos, als eine Metropole, die mit dem Rest von England oft wenig gemein hat. Der Brexit dürfte dieses Gefühl noch mal deutlich verschärfen. Denn das Entsetzen an der Themse ist groß. „I’m shocked“, ich bin schockiert. Dieser Gesprächsfetzen hängt am Freitag wie ein Echo über der Stadt.
„Ich will nicht mehr Teil dieses Landes sein“, sagt Flora, die wie viele andere Briten zur Downing Street gekommen ist, dort, wo Premierminister David Cameron erst kurz vorher seinen Rücktritt bekannt gegeben hat. Flora ist die Enttäuschung über das Referendum ins Gesicht geschrieben. Sie habe es leid, erzählt die junge Frau, in einem Land zu leben, dass so über Flüchtlinge urteilt wie Großbritannien. „Es will nicht in meinen Kopf, dass die Menschen außerhalb Londons so anders denken als wir hier“, sagt eine andere Londonerin.
Und tatsächlich scheint es das Thema Einwanderung gewesen zu sein, welches die Befürworter eines Ausstiegs am Ende zum Sieger des Referendums machte. „Hier sind einfach zu viele Menschen“, sagt einer, der für „Leave“ gestimmt hat. Ein anderer hofft, dass die Chancen auf dem Arbeitsmarkt nun besser würden. Warum, dass weiß er aber auch nicht.
London ist geschockt – vor allem, weil in den vergangenen Tagen vieles darauf hindeutete, dass es doch zu einem knappen Sieg der Brexit-Gegner kommen würde. Noch kurz nachdem die Wahllokale geschlossen wurden, als die neueste YouGov-Umfrage über die Bildschirme flatterte und ein 52 zu 48 Prozent Ergebnis für Remain suggerierte, schien die Welt in London in Ordnung.
Vor allem die Quoten der Buchmacher sorgten für Zuversicht, denn diese gelten auf der Insel eigentlich als zuverlässiger als Meinungsumfragen, und im Laufe des Wahltags hatten die Quoten der Wettbüros deutlich gegen einen Brexit gesprochen.
Doch dann kamen die ersten beunruhigenden Ergebnisse aus Sunderland und Newcastle, und schon deren Anteil an „Leave“-Stimmen war deutlich höher als erwartet. Plötzlich wurde als vielen Späßen unerwarteter Ernst. „Ich habe ein Flugticket nach Kalifornien“, hatte Craig Calhoun, der Direktor der renommierten London School of Economics auf dem Wahlabend der Uni noch gescherzt.
„Wir haben die Queen, wir brauchen die EU nicht“
Irgendwann in den frühen Morgenstunden wurden die Befürchtungen dann bittere Realität. „Das hier ist schlimmer als der Lehman-Crash“, sagt eine Bankerin in der City. Viele sind entsprechend verunsichert. „Es haben heute einige Briten bei mir Euro gekauft“, sagt die Mitarbeiterin eines Geldwechselbüros am Trafalgar Square, die sonst vor allem die Währungsgeschäfte von Touristen abwickelt. Viele haben schon in den Wochen vor dem Referendum Pfund verkauft, andere holen das nun aus Angst vor noch weiter fallenden Kursen nach.
Ganz anders die „Leave“-Fraktion. Pamela hat einen kleinen Souvenierwagen gegenüber vom Big Ben. Am Freitag ist sie genauso in Nationalfarben gehüllt wie die Touristenartikel in ihrem Wagen. Der Union Jack klebt als Aufkleber in ihrem Gesicht, auch das Make-up hat die rüstige Verkäuferin farblich angepasst. „Wir haben die Queen, unser eigenes Militär, wir brauchen die EU nicht“, sagt sie. Vor allem könnte die EU nun endlich nichts mehr diktieren.
Soweit die Meinungen und die Stimmung von Befürwortern und Gegnern auch auseinander geht, in einem sind sich alle einig: Die EU und ihre Politiker müssen endlich aufwachen und für die Bürger mehr sein als eine Ansammlung von Regularien und Politikern in Brüssel.