Seit dem Ausbruch der Griechenlandkrise 2010 weicht Deutschland vor den Forderungen seiner Partner zurück. Erst nur eine bilaterale Ausnahmelösung zugunsten der Hellenischen Republik, dann ein dreijähriger Rettungsschirm und nunmehr ein ewiger Rettungsschirm, der – obschon noch gar nicht aufgespannt – von den Schuldnerländern schon als unzureichend qualifiziert wird. Parallel dazu versucht die Europäische Zentralbank (EZB), Anleihekäufe im großen Stil politisch akzeptabel zu machen, flutet die Banken mit Zentralbankgeld und verwässert systematisch die Anforderungen an Sicherheiten.
Wie konnte es dazu kommen, dass sich mit deutscher Zustimmung die EWU so weit vom Maastricht-Modell entfernte und fortfährt, unter politischer Führung und Erpressung durch jene Länder, deren wirtschaftliche Situation diese Krise veranlasst hat, das ordnungspolitische Maastricht-Modell vollständig aus den Angeln zu heben, ohne jedoch absehbar die Euro-Zone zu stabilisieren? Aus Frankreich hört man, die Lücken im Maastricht-System würden lediglich gestopft. Nun würde nachgeholt, was 1991 übersehen wurde.
Von europäischer Schuld und Solidarität
So jedenfalls die propagandistischen Bemühungen, um Deutschland seine Niederlage schmackhaft zu machen. Wer zögert, dem eigenen Untergang Beifall zu spenden, wird unter Hinweis auf die von Deutschland "durch den Euro erlangten Vorteile" und seine eurogeschuldete Solidarität ermahnt, den Kopf nicht zu betätigen, sondern das Haupt zu senken und sich als "guter Europäer" seinem Schicksal zu fügen.
Spannender, als diesem Ratschlag zu folgen, ist indessen die Frage, warum die Deutsche Bundesbank diesen Prozess nicht hat aufhalten können, obwohl sie nach ihrer Aufgabe und ihrer Kompetenz hierzu befugt und verpflichtet gewesen wäre. Der Verfall der Bundesbank ist – nicht erst in jüngster Vergangenheit – mit Händen zu greifen. Die Bundesbank hat zusammen mit den Niederlanden und Luxemburg stets gegen die Überschreitung des geldpolitischen Mandats der EZB gestimmt, um dann die Anleihekäufe geflissentlich so durchzuführen, als sei sie der Gehilfe des jeweiligen EZB-Präsidenten.
Die Bundesbank hat sich immer der EZB gebeugt
Von der rezenten Weigerung, griechische Staatspapiere als Kollateral zu akzeptieren, abgesehen, hat die Bundesbank loyal zum jeweiligen EZB-Präsidenten und gegen die eigene Überzeugung das Gros der Risiken aus der mandatslosen Operation der EZB in die eigenen Bücher genommen und wird die fiskalischen Folgen dem Steuerzahler auftischen müssen. Dieses widersprüchliche Verhalten einer Institution, die sich als Treuhänder der Bürger bei der Verteidigung von Geld und Währung ansieht, verlangt nach einer Erklärung. Sind etwa die politisch-normativen Konzepte, auf denen die Bundesbank beruht, nur im Rahmen des Verfassungs- und Institutionsgefüges der Bundesrepublik Deutschland effizient, indes in Auseinandersetzung mit europäischen Partnerländern der Gefahr ausgesetzt zu scheitern?
Bundesbank war immer unpolitisch
Der konkreten institutionellen Unabhängigkeit liegt das von dem Staatsrechtler Carl Schmitt geprägte kontroverse Konzept der politischen Neutralität zugrunde. Die Bundesbank ist entpolitisiert, weil die Konsequenz von Geld- und Währungspolitik nur unabhängig von demokratischen Zyklen rational wahrgenommen werden kann. Praktisch folgen hieraus die Weisungsfreiheit der Währungshüter von der Bundesregierung und die Freiheit von jeglicher Rechenschaftspflicht gegenüber dem Bundestag. Indessen ging die nationale Machtstellung der Bundesbank über diese Weisungsfreiheit hinaus. Denn die Bundesbank hatte gegenüber dem Bundesfinanzminister stets eine adäquate Sanktion, auf extravagante Ausgabenpolitik zu reagieren. Sie konnte mit der Verteuerung der Fremdmittelbeschaffung durch Erhöhung des Leitzinses stets wirkungsvoll reagieren.
Nur Draghi entscheidet über Leitzinsänderungen
Mit der Reduzierung der Bundesbank auf den Status eines 27-Prozent-Gesellschafters der EZB, die dem Gouverneur jeder anderen Zentralbank genauso viele Stimmrechte gibt wie dem Präsidenten der bedeutendsten Notenbank Europas, sieht sich das Konzept der politischen Neutralität einer Bewährungsprobe ausgesetzt: EZB-Präsident Mario Draghi interpretiert noch autokratischer als sein Vorgänger das ihm anvertraute Mandat. Nur er weiß und nur er bestimmt, wann die Staatsschuldenmärkte so gestört sind, dass die Wirksamkeit der Geldpolitik gefährdet ist und ausschließlich Anleihekäufe Linderung bringen. Recht und Regeln setzen dabei keine Grenzen.
Die EZB macht – auch fiskalisch –, was sie will beziehungsweise was ihr Präsident, legitimiert durch einen entsprechenden Beschluss des Rates unter dem Druck der notleidenden Mittelmeerländer, vorhat. Sie nutzt ihre Weisungsfreiheit, um ihr Mandat eigenmächtig zu erweitern und die nationalen Zentralbanken – vor allem die Bundesbank – zu Erfüllungsgehilfen zu degradieren.
Die Bundesbank hat nicht aufgepasst
Wer hätte gedacht, dass die Bundesbank zum Opfer ihres eigenen Konzeptes werden würde. Sie war es, die im Vorfeld zum Beschluss über die Währungsunion einerseits meinte, verpflichtet zu sein, so viele Strukturelemente wie möglich aus der Bundesbank-Konstruktion auf die EZB zu übertragen, andererseits – gepackt von politischer Blindheit – nicht erkannte, wie sich diese Strukturelemente, also besonders die Stimmenparität, die Weisungsfreiheit der EZB gegenüber den EWU-Mitgliedsländern und vor allem die Weisungsgebundenheit der nationalen Zentralbanken gegenüber der EZB, in der Krise auswirken würden.
Die Gebaren der EZB führten zum Rücktritt der immerhin demokratisch gewählten Regierung Silvio Berlusconis durch fiskalischen Druck des damaligen EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet und Mario Draghi. So unwürdig eine Figur wie Berlusconi auch gewesen sein mag, so wenig legitim waren die Umstände seiner Abberufung durch zwei Herren, die nie demokratisch in ein Amt gewählt worden waren. Demgegenüber lässt sich durch keine Macht der Welt der französische Staatspräsident daran hindern, mit Benoît Cœuré, dem französischen Mitglied im EZB-Direktorium, zu telefonieren und über die üblichen Kanäle der Pariser Diplomatie jenen Einfluss zu nehmen, den er im nationalen Interesse für geboten hält.
Politisch naive Fehldiagnose
Derartige Einflussnahmen, also der politisch-faktische Versuch, die EZB zum Objekt der nationalen Politik zu machen, mussten im Bundesbank-Modell am esprit de corps des Bundesbank-Personals scheitern oder blieben auf einzelne Versuche beschränkt, die – kamen sie an die Öffentlichkeit – von derselben so massiv verurteilt wurden, dass die Politik sofort zurückwich. Einen vergleichbaren Rückhalt in der Öffentlichkeit gibt es bei der EZB mangels einer europäischen Öffentlichkeit genauso wenig wie einen esprit de corps. Wenn also die Bundesbank meinte, EZB und Euro-System wären institutionelle Garanten gegen die Politik der Selbstermächtigung und gegen das konzeptionelle Aufweichen der Stabilitätspolitik, so handelte es sich um eine politisch naive Fehlprognose. Sie konnte nur so ausfallen, weil das Personal der Bundesbank – mit allen Vor- und Nachteilen – von beamtenhafter Tugend und mit einer unübersehbaren Tendenz zum technokratischen Spießertum geprägt war und ihm wegen dieser Begrenztheit die Dynamik politischer Prozesse verschlossen blieb.
Grünes Licht trotz Vorbehalten
Jene Geldverwalter in der Wilhelm-Epstein-Straße verstanden nichts vom ungebändigten Willen zur Macht der anderen Zentralbanken, besonders der Banque de France. Sie meinten sogar, dies ignorieren zu können, und zwar so, als habe Geldpolitik im deutschen Sinne aufgehört, Politik im eigentlichen Sinne zu sein. Dabei hatte die Bundesbank in der entscheidenden Phase der auch von Frankreich geforderten Währungsunion mit Hans Tietmeyer einen politisch erfahrenen und gewieften Verhandler an ihrer Spitze. Dennoch gab die Bundesbank unter der Leitung dieses westfälischen Realpolitikers bei ihrem Gutachten zur EWU trotz aller Vorbehalte grünes Licht, indem sie das Vorhaben als "vertretbar" qualifizierte. Wie war ein solches Urteil fachlich zu rechtfertigen angesichts der flagranten Unstimmigkeiten im Euro-System?
Bundesbank wird Erfüllungsgehilfe der Politik
Die Regel der Stimmparität im EZB-Rat musste besonders in Krisenzeiten höchst problematische politische Interessenkonflikte mit sich bringen, die durch geldpolitische Fachdiskussionen – ohne Willen zur Macht – nur zum Nachteil der Bundesbank zu lösen waren. Die Weisungsbefugnis der EZB gegenüber der Bundesbank machte Letztere potenziell zum Erfüllungsgehilfen einer Politik, die sie im EZB-Rat zuvor erfolglos bekämpft hatte. Diese Situation ist nunmehr eingetreten, und sie wäre politisch vorhersehbar gewesen, weil sie die Prämie der Südländer einschließlich Frankreichs für die institutionellen Anpassungen ihrer nationalen Zentralbanken sowie ihr öffentliches Gelöbnis zur Stabilitätspolitik darstellte. Wenn die Bundesbank die Umsetzung dieser EZB-Beschlüsse nicht verweigert, setzt sie Anreize dafür, dass die Nehmerländer sich weiterhin der Bundesbank-Bilanz bedienen können.
Politische Isolation droht
Unterlässt es die Bundesbank, in dieser Situation unter Berufung auf das Bundesbankgesetz und Artikel 128 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, die selbstermächtigende Mandatserweiterung der EZB faktisch zu stoppen, droht ihr die politische Isolation. Dabei liefern die in flagranti rechtswidrigen Weisungen zum Anleihekauf unwiderlegbare juristische Argumente zu ihrer Verweigerung. Die Bundesbank kann nicht nur unter dem Schutzschirm der Legalität die Mittäterschaft an dem von Draghi und Co. organisierten Rechtsbruch verweigern. Bundesbank-Chef Jens Weidmann ist verpflichtet, die Durchführung künftiger Anleihekäufe abzulehnen. Gleiches gilt für die Verwässerung der Zulässigkeitskriterien für Kollaterale und für die Vergemeinschaftung der Gold- und Devisenreserven.
Einsame Neinstimme
Längst hätte die Bundesbank dieses Volksvermögen, das sie nur treuhänderisch für Rechnung aller Deutschen verwaltet, unter ihre Herrschaft schaffen müssen. Dennoch vertraut sie weiter auf die Banque de France, die Bank of England und die Federal Reserve. Weidmann scheint anzunehmen, dass alle fachlichen Kontroversen durch den Dialog zwischen Zentralbankern zu regeln sind. Jedenfalls hält er es in der Öffentlichkeit weiter mit Sachargumenten, weist auf die Grenzen des EZB-Mandats hin, während in Italien, Spanien und vor allem in Paris das Trommelfeuer der veröffentlichten Meinungen die Bundesbank politisch zu isolieren sucht.
Bereits die EZB-Ratssitzung Anfang August ließ die Taktik von Draghi und seiner Auftraggeber in Rom, Paris und Madrid überdeutlich werden: In Erwartung eines abweisenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts sollte getestet werden, ob der Widerstand der Bundesbank hält, um dann zum großen Schlag anzusetzen und die EZB zusammen mit dem Euro-Rettungsschirm zur Fiskalfeuerwehr, zum "buyer of last resort", und damit zum Wettbewerbsverfälscher auf den Staatsanleihenmärkten zu machen. Weidmann stand mit seiner Neinstimme allein. Als Koalitionspolitiker scheint er wenig Erfolg zu haben.
Niemand schert sich um Weidmann
Die Bundesbank befindet sich mit ihrem institutionellen Konzept seit der Euro-Krise in der Sackgasse. Mehr noch: Das Vertrauen der Bundesbank und ihres jungen Präsidenten auf den fachlichen Dialog in Kollegengesprächen müsste einer politischen Betrachtungsweise weichen. Die enge Sicht der Geldbeamten in der Wilhelm-Epstein-Straße wird nicht nur am Finanzplatz Frankfurt und in Teilen der Wissenschaft belächelt, sondern ebnet Draghi und Co. den Weg zum Sieg. Die Bundesbank und ihr Präsident können dann das Stabilitätslied weiter intonieren. Doch niemand wird sich darum scheren, weil Herrn Weidmann und seinen Beamten im entscheidenden Moment der Wille zur Macht fehlte.
Möge danach dem jungen Bundesbank-Chef mit den feinen Manieren bitte noch eine zweite Chance beschieden sein, um zu beweisen, dass er eine Führungspersönlichkeit mit Haltung ist, die einen Kontrapunkt zur Realitätsflucht seines Vorgängers zu setzen vermag. Wird Präsident Weidmann endlich doch den Mut aufbringen, die von der EZB beschlossenen rechtswidrigen Anleihenkäufe nicht auszuführen?