Meinhard Miegel "Wir schaffen das"

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"Europa muss weit mehr sein als ein Markt"

In Ihren Büchern und Vorträgen geht es meist um das bevorstehende Ende des Zeitalters des Wirtschaftswachstums. Wird sich das nun angesichts des aktuellen Einwanderungsschubs verschieben? Muss die Wirtschaft jetzt nicht sogar weiter wachsen, um die Neuankömmlinge zu versorgen?

Europa, vor allem Westeuropa und Deutschland, genießen einen materiellen Lebensstandard, der so turmhoch über dem globalen Lebensstandard liegt, dass es durchaus möglich ist, selbst eine stattliche Zahl von Zuwanderern bei unveränderter und selbst sinkender Wirtschaftsleistung auskömmlich mitzuversorgen. Die 500 Millionen EU-Bürger müssen nicht mehr produzieren, um vielleicht zwei oder drei Millionen Zuwanderer tragen zu können.

Mit Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts, geht der wohl umstrittenste deutsche Spitzenökonom Ende März in Pension. Über seine Bilanz, die Flüchtlingskrise und die Zukunft des Euro spricht er im Interview.
von Bert Losse, Malte Fischer

Historiker suchen derzeit nach Vergleichen der heutigen Entwicklung mit früheren Wanderungsbewegungen. Man spricht über Amerikas Erfolgsgeschichte, über Hugenotten und Polen im Ruhrgebiet, über die deutschen Ost-Flüchtlinge von 1945. Einige Historiker sehen uns gar in der Lage des untergehenden Römischen Reiches.

Historische Vergleiche sind oft irreführend, besonders wenn sich die Rahmenbedingungen so radikal verändert haben, wie in der jüngsten Vergangenheit. Als der spanische Philosoph Ortega y Gasset zu Beginn der 1930 Jahre sein berühmtes Buch "Der Aufstand der Massen" schrieb, lebten weltweit 2,3 Milliarden Menschen. Heute sind es mit fast 7,4 Milliarden mehr als dreimal so viel. Und binnen eines historischen Wimpernschlags bis 2050 werden voraussichtlich noch einmal 2,3 Milliarden hinzukommen.
Das lässt alle historischen Erfahrungen obsolet werden. Hinzu kommen die beispiellosen Verschiebungen zwischen den Kontinenten. Während sich die Bevölkerung Afrikas von 1970 bis 2100 ungefähr verachtfachen dürfte, dürfte sie - ohne Zuwanderung - in Europa um etwa ein Sechstel abnehmen. Ein weiterer Unterschied zu früher ist das enorme Wohlstandsgefälle. Als vor reichlich 150 Jahren europäische Auswanderer nach Amerika kamen, wanderten Arme zu Armen. Da gab es niemanden, der Kinder mit Teddybären empfing und es gab erst recht keine sozialstaatlichen Einrichtungen, die eine Mindestversorgung der Ankömmlinge sicherstellten. Neu ist auch, dass jetzt junge Menschen in eine alte Bevölkerung einwandern. Früher waren alle jung. Die Liste solcher Unterschiede ließe sich fortführen.

Ist es ein Konstruktionsfehler der EU, dass sie auf der Wirtschaft aufgebaut ist?

Jean Monnet, einer der Väter der europäischen Einigung, soll gesagt haben, beim nächsten Mal würde er nicht mit der Wirtschaft sondern mit der Kultur beginnen. Wie berechtigt dieser Gedanke ist, zeigt sich gerade jetzt wieder. Europa steht in der Gefahr, zwar nicht wirtschaftlich aber kulturell zu zerfallen. Was derzeit in Teilen Europas geschieht, ist mit europäischen Werten nicht zu vereinbaren. Sollten diese Sichtweisen Schule machen, würde Europa aufhören Europa zu sein. Bloß für einen europäischen Binnenmarkt zu kämpfen, ist kein lohnendes Ziel. Europa muss entweder weit mehr sein als ein Markt, nämlich eine Kultur- und Wertegemeinschaft. Oder es ist nicht viel mehr als eine zerklüftete eurasische Halbinsel.

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